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Leserbrief zum Artikel DDR 1989: Ab in den Westen vom 11.09.2019:

Realität verloren

Lieber Herr Roesler, ich wohnte bis 1992 in der Nähe der Prenzlauer Allee, und ich war damals in einem Wohngebietsausschuss. Neben einer Funktion in der SED-Parteileitung unseres Außenhandelsbetriebes Nahrung Export/Import, einer Kampfgruppenmitgliedschaft und der Leitung der ABI in unserem Unternehmen. Anfang 1989 sah es noch nach Aufbruch aus. Krenz und Schabowski hatten Ende Februar 1989 eine Parteiaktivtagung in Berlin mit Versprechen dekoriert, dass die nächsten Wahlen eine echte Auseinandersetzung sein und die Wahlergebnisse ungeschminkt sein würden. Ihr Versprechen hielt keine zwei Monate. Ich war in unserem Wahlbüro und sah die echten Ergebnisse. Die PDS wäre glücklich damit gewesen, Stimmenanteile von über 60 Prozent zu erreichen, aber Honecker hatte sich sehr weit von den Realitäten entfernt und brauchte 99 Prozent. Seine Wahrnehmungsprobleme waren das eine. Die Feigheit und Dummheit des Restes der Parteiführung waren wohl das größere Problem.
Die SED-Führung hatte die Fähigkeit zur Innovation verloren und lebte in mehreren Welten: der Wunschwelt des Generalsekretärs Honecker, der Perestroika (die undurchdacht, planlos war und eher dem Gang eines Blinden glich), den Reformen in China (die langsam mehr und mehr griffen, aber als Revisionismus angesehen wurden, obwohl sie in den kommenden Jahren sich vor allem, was die marktwirtschaftlichen Elemente und Auslandsinvestitionen betraf, vertieften, aber im Unterschied zur Sowjetunion und ihren Satelliten – die DDR war nichts anderes als ein Satellit der UdSSR, der nicht in der Lage war, eigene Schritte zu gehen – das Machtmonopol der KP nicht nur beibehielt, sondern qualifizierte) und einer massenhaften Abwendung nicht nur der eigenen Bürger, sondern auch der eigenen Partei.
Die SED geriet bereits im Frühjahr 1989 (noch vor den Maßnahmen Ungarns) in eine tödliche Krise. Die Wahlen im Mai 1989 waren der Wendepunkt. Man verspielte in einer hohen Geschwindigkeit und auf höchst dümmliche Weise Vertrauen! Vor den Wahlen gab es noch Möglichkeiten zu einer Wende, wenn man die Tatsachen offen reflektiert und diskutiert hätte. Die Abwanderung 1989 war gering im Verhältnis zu der in den Folgejahren. Die Verantwortung für die Entwicklung 1989 trägt an erster Stelle Honecker, dessen Eitelkeit und Negation der Realität krankhafte Züge trug. Aber das Politbüro und vor allem Egon Krenz müssen sich fragen, ob sie nicht genauso versagt haben. Honecker war ja praktisch durch einen Putsch gegen Ulbricht an die Macht gekommen! Was Gorbatschow alles falsch machte (man muss sich fragen, was er überhaupt richtig machte) ist ein anderes Problem. Die Entwicklung in der DDR wurde hauptsächlich durch die SED-Fuehrung verursacht. 1989–1991 ging der sowjetische Sozialismus relativ schnell unter. Mit dem Putsch gegen Chruschtschow 1964 setzten sich dogmatisch und oberflächlich handelnde Kräfte durch, die ein Absterben des Systems zu verantworten haben.
Der Sozialismus (in China spricht man von einer Entwicklung in Richtung Sozialismus, und man erspart sich die Tautologie einer sozialistischen, entwickelten sozialistischen, realen sozialistischen, kommunistischen Gesellschaft) an sich befindet sich am Anfang seiner Entwicklung und könnte in den nächsten Jahrzehnten sehr kräftig und attraktiv werden.
Das folgende ist aus dem Handelsblatt. Man liest so alles Mögliche und Unmögliche. Aber chinesische Unternehmen, die Hitech nach Deutschland bringen und treu und brav die Steuern in Deutschland bezahlen, Tausende Leute beschäftigen, die deutsche Forschungslandschaft beleben, das gehört nicht zu den Schwerpunkten der deutschen Medien. Aber es ist so:
https://media.handelsblatt.com/adv/huawei/
Und deshalb sind die jährlichen Reisen der Bundeskanzlerin nach China nicht nur ein touristisches Erlebnis, kulinarischer Genuss, sondern auch eine Akquise für die deutsche Volkswirtschaft. Und es wird noch mehr solche Entwicklungen geben!
Achim Lippmann
Veröffentlicht in der jungen Welt am 16.09.2019.
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