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Leserbrief zum Artikel Aufruf der Friedensbewegung: Nie wieder Krieg! vom 28.08.2019:

Teufelskreis beenden

»Frieden statt Aufrüstung« ist ein viel besserer Slogan als der Lippenlisperl »Abrüsten statt Aufrüsten«, in dem sprachlich und psychologisch das Aufrüsten 50 Prozent Wirkung einnimmt.
Ich wollte die Initiative begeistert unterschreiben, drück die Taste: Da sehe ich in den letzten Sätzen, wie Willy Brandt als Quasi-Held hervorgehoben wird. Beim genaueren Durchlesen des Aufrufs fiel mir dann Willy Brandt schon im Eingangssatz auf. Der Aufruf, eingerahmt von Willy Brandt, dem Friedenstifter? Die andere Seite der sogenannten Entspannungspolitik unter Brandts Ägide war doch der Schraubstock nach innen: Berufsverbote z. B. (Ich war eine der Betroffenen und bin, was die Kleinlichkeit meiner Rente heute betrifft, immer noch betroffen.) Und es wurde weiterhin Nachsicht gegenüber Faschisten geübt. (Wir wohnen in Italien und wissen, dass Brandt persönlich den verurteilten Nazi- und Kriegsverbrecher Kappler aus Rom freigepresst hat. Bis ihm das gelungen war, flog Kapplers Ehefrau regelmäßig auf Kosten der BRD zu Gefängnisbesuchen nach Rom und bezog Rente. Kappler durfte nach seiner »Befreiung« durch Willy Brandt bis an sein Lebensende unbehelligt in der BRD leben und eine fürstliche Rente kassieren. Heute befindet sich in Rom ein Museum am Ort des mörderischen Geschehens unter deutschfaschistischer Terrorherrschaft.)
Für mich ist die sogenannte Entspannungspolitik mit den entsprechenden Politikerfiguren kein historisches Vorbild an sich, sondern drückt für mich das widersprüchliche Spannungsverhältnis der damaligen Zeit aus, in der es gelang, mit zwielichtigen Gestalten wie Brandt die Westdeutschen zu verführen, den Fall der DDR und Sowjetunion als friedenstiftenden Prozess zu begleiten. Das Ergebnis heute: Die NATO steht vor Russlands Grenze. Der großangelegte Versuch, realsozialistische Verhältnisse zu schaffen, ging immerhin ohne Blutvergießen unter, ein zu rühmendes Verdienst von Sozialisten.
Insofern könnte ich sarkastisch sagen, die zum Aufruf Aufrufenden haben recht, weil es in der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre kein besseres Beispiel als die sogenannte Entspannungspolitik gibt, auf das wir uns berufen könnten: keine nationale Befreiungsbewegung vom Hitlerfaschismus, keine erfolgreiche bürgerliche Revolution. Immer kamen deutsche Errungenschaften in bezug auf Demokratie und Freiheit von oben (Bismarck) oder von außen (Napoleon, Rote Armee), während eigene deutsche Widerstands- oder Revolutionskämpfe für Sozialismus (Spartakus) blutig niedergeschlagen wurden und aus der Mainstreamerinnerung gestrichen (Liebknecht, Luxemburg, Thälmann, KPD) oder, wie es heute mit der DDR passiert, diffamiert und nachträglich mit Dreck beworfen werden.
Der Text des Aufrufs ist ansonsten treffend und überzeugend, der Eingangs- und der Schlusssatz sind dagegen völlig überflüssig. Leider bleibt die Lobhudelei Willy Brandts beim Leser hängen und konterkariert für mich die gesamte Aussage des Aufrufs. Ich erkläre mir den Eingangs- und Schlusssatz des Aufrufs mit einem Kompromiss, den die Aufrufenden glaubten eingehen zu müssen, um ein breites Bündnis vorzubereiten. Damit wären wir in guter deutscher Tradition. (Sozialdemokratie)
Ich würde mir so sehr wünschen, wenn dieser Teufelskreis heute allgemein endlich durchbrochen werden könnte!
Ich persönlich fange schon mal damit an und unterschreibe nicht, solange dieser Eingangs- und Schlusssatz mit lobendem Verweis auf Willy Brandt mit unterzeichnet werden muss.
»Frieden und Zusammenarbeit statt Aufrüstung und Konfrontation«, ja, dem stimme ich zu!
»Nie wieder Krieg« dagegen klingt für mich altmodisch, als wenn es weltweit jemals eine Periode ohne Krieg gegeben hätte, nachdem man im Herzen Europas einen Krieg beendet hatte. Auch direkt nach 1945 gingen Kriege in anderen Ländern weiter (Griechenland, Burma, Korea, Vietnam, Algerien, um nur wenige aufzuzählen). Selbst mitten in Europa brach gerade vor 20 Jahren ein Krieg aus. »Kriege stoppen« oder »keine weiteren Kriege« halte ich für wirklichkeitsgetreuere Losungen.
Auch wenn es aus europäischer Unschuldsperspektive erscheint, als wenn wir friedlich leben, so toben und tobten woanders heftige Kriege. So fehlt mir im Aufruf z. B. ein expliziter Hinweis auf den fürchterlichen Krieg in Jemen ...
Beate Brockmann, Praelo/Italien
Veröffentlicht in der jungen Welt am 04.09.2019.