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Leserbrief zum Artikel USA verschärfen Sanktionen: Caracas im Würgegriff vom 07.08.2019:

Zweierlei Wahlen

Zwei Wahlen – von einer davon spricht man schon nicht mehr.
Die eine Wahl fand vor 15 Monaten statt, aber ihre Ergebnisse beschäftigen die sogenannte »Weltöffentlichkeit« bis heute; die andere Wahl fand vor rund 15 Tagen statt – und niemand spricht oder schreibt mehr darüber. Wieso? Was ist da los? Im Mai 2018 wurde Nicolás Maduro, Lieblingsfeind Washingtons, mit 67,8 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten Venezuelas wiedergewählt. Die mit 46 Prozent relativ geringe Wahbeteiligung ergab nach Adam Riese, dass ihm 67,8 x 0,46 = 31,2 Prozent aller Wahlberechtigten ihre Stimme gaben – was Washington und, ihm gehorsam folgend, dann fast den gesamten Westen »veranlasste« bzw. geradezu dazu »zwang«, ihm die Anerkennung zu verweigern. US-Präsident Donald Trump hat soeben sämtliche Aktiva Venezuelas in den USA »eingefrorern«, mit der Begründung, Maduro sei bei »inkorrekten Wahlen« gewählt worden.
Die »Anerkennung« ist zwar irrelevant, da im internationalen diplomatischen Verkehr immer mit der gerade zweifellos im Amt befindlichen Regierung kommuniziert wird – ob Diktatur wie in Thailand bzw. absolutistische Monarchie wie in Saudi-Arabien und den Emiraten oder mehr oder weniger demokratisch gewählte Staatsführung; also ob nun z. B. Trump mehr oder weniger Stimmen hatte als Hillary Clinton und wie dabei die Wahlbeteiligung war, interessiert international gar nicht – alle anderen Staatschefs wenden sich an den Präsidenten der USA, und das ist nun mal Trump.
Bei Venezuela aber konnten 51 der knapp 200 Regierungen dieser Erde angeblich »nicht hinnehmen«, dass ein Staatschef mit einer solch niedrigen Beteiligung gewählt wird und ins Amt kommt. Sie erkannten den Parlamentspräsidenten namens Guaidó als »legitimen Interims-präsidenten« von Venezuela an. Trump drohte sogar an, dessen Regierungsgewalt mit einer militärischen Intervention zu sichern.
Aber nun wurde im Juli 2019 das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, gewählt. Die neu geschaffene, noch ziemlich profillose Partei des neu gebackenen Präsidenten Selenskij bekam – vielleicht wegen des schönen Namens »Diener des Volkes« – 43,0 Prozent der Stimmen; in Kombination mit vielen Direktmandaten, die in der Ukraine nicht wie bei uns durch Ausgleichsmandate kompensiert werden, erhielt sie 60 Prozent aller Mandate (254 von 424). Sie kann damit allein regieren. »Ein klarer Sieg«, schrieb sogar die junge Welt.
Einen Schönheitsfehler hatte diese Wahl aber doch: die beispiellos niedrige Wahlbeteiligung. Noch nie zuvor waren in der Ukraine weniger als die Hälfte, nämlich nur 49,8 Prozent der Wahlberechtigten, zur Wahl gegangen. Rechnen wir also wieder: 43,0 x 0,498 = 21,4 Prozent aller Wahlberechtigten haben diese neue Partei gewählt. Doch sie bekommt 60 Prozent aller Mandate. Aufgrund von Direktmandaten, die nicht durch Ausgleichsmandate »kompensiert« werden wie in Deutschland. 21,4 Prozent werden zu 60 Prozent – und umgekehrt 78,6 Prozent zu 40 Prozent. Die Mehrheit wird zur Minderheit. Demokratie?
Wäre z. B. das Nachbarland Russland nun berechtigt, wegen »fehlender Demokratie« der künftigen Regierung der Ukraine unter Präsident Selenskij die Anerkennung zu verweigern und eine fiktive »Regierung« z. B. des letzten unter einigermaßen fairen Bedingungen 2010 gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch als »einzige legitime Regierung« der Ukraine anzuerkennen?
Natürlich nicht. Denn es gilt der Grundsatz, dass diplomatische Beziehungen mit der jeweils tatsächlich im Amt befindlichen Staatsspitze unterhalten werden. Alles andere ist Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates – und die ist von der UN-Charta verboten. Verboten ist damit auch die ökonomische bzw. finanzielle Kriegführung (des Westens) gegen andere Länder. Nur dass das offenbar weder Trump noch Merkel oder Macron »juckt«.
Deren Heuchelei wird damit offensichtlich – gerade beim Vergleich der beiden Wahlen.
Volker Wirth, Berlin
Veröffentlicht in der jungen Welt am 09.08.2019.