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Leserbrief zum Artikel Kommunisten blockieren Fliegerhorst vom 15.07.2019:

Gegen die Geschichtsrevisionisten

Am 27. Juli, übertragen von RT Deutsch, gaben die russischen Historiker dem Geschichtsrevisionisten bzw. Welt-»Historiker« Sven Felix Kellerhoff mit seinem grotesken Versuch, die größte Panzerschlacht im Zweiten Weltkrieg bei Prochorowka (12. Juli 1943) in einen deutschen Sieg umzumünzen, auf einer Pressekonferenz eine entschiedene und fundierte Abfuhr. Ich möchte dies mit einigen ideologiekritischen und militärischen Aspekten präzisieren: Die meisten deutschen Wehrmachts- und Bundeswehr-Militärs sowie viele BRD-Historiker konnten in ihrer arrogant-dümmlichen Hybris nie verwinden – und dies spiegelt die Kellerhoff-Timothy-Snyder-Geschichtsrevision substantiell wider –, dass:
– der Mythos zerschlagen war, dass die Rote Armee angeblich nur durch »General Winter« sehr erfolgreiche Abwehr-, Kesselschlachten und Gegenoffensiven (Moskau ’41, Stalingrad ’42/’43, Charkow ’43) durchführen konnte; diesmal erlitt die Hitler-Wehrmacht in einer gewaltigen Sommerschlacht eine ihrer größten Niederlagen,
– die Wehrmachts-»Wunder«-Generalfeldmarschälle (Manstein, Model) es ermöglichten, dass die Strategie der Roten Armee in der Schlacht im Kursker Bogen voll aufging: a.) Die 42 aufmarschierten Wehrmachts-, davon 18 Panzerdivisionen bluteten in den tiefgestaffelten, gut ausgebauten Verteidigungsstellungen (im Norden 5. bis 12. Juli, im Süden 5. Juli bis 23. August) aus, b.) um dann in mächtigen Gegenoffensiven (12. Juli Oriol, 13. August Belgorod /Charkow) die noch verbliebenen modernsten Verbände der Faschisten weit nach Westen zurückzudrängen. Die deutschen Verluste (Panzerkampfwagen) waren nicht mehr ersetzbar.
Auch die deutsche Luftüberlegenheit ging an der Ostfront endgültig verloren. Im September wurde Kiew befreit, nachdem die deutsche Generalität bei Planung und Durchführung der größten und letzten Sommeroffensive (»Zitadelle«) in ihrem dämlich-dümmlichen Überlegenheitsgefühl – selbst Stalingrad war da keine Lehre (»Der deutsche Landser sei dem Iwan dreifach überlegen!« – dieses Märchen findet leider noch heute massenhaft Apologeten) die simpelsten militärischen Grundsätze schlicht ignoriert hatte: Das Ostheer griff in erheblicher Unterzahl an (z. B. 2.700 Kampffahrzeuge gegenüber 3.600 sowjetischen, 10.000 Artilleriegeschütze gegenüber 20.000). Die Niederlage war damit vorprogrammiert.
– man absolut nicht wahrhaben wollte und will, dass die sowjetische Rüstungsindustrie der faschistischen quantitativ und qualitativ weit überlegen war. Allein 1943 produzierte die UdSSR circa 26.000 Kampffahrzeuge (insgesamt im Zweiten Weltkrieg 76.000 Kampffahrzeuge), Hitlerdeutschland bzw. -europa nur circa 26.000 im Zeitraum von ’41 bis ’45.
Auch vom Fetisch der überlegenen deutschen Panzertechnik ist immer noch nicht der Lack ab. Der »T-34« war mit Abstand von 1941 bis zum Sommer ’43 der beste Kampfpanzer der Welt (von 1940 bis ’45 wurden mehr als 40.000 »T-34/76« und »T-34/85« gebaut). Diesem »Panzerschock« konnte die faschistische Rüstungsindustrie ab Sommer ’43 nur insgesamt circa 1.300 »Tiger I«, circa 450 »Tiger II« und etwa 6.000 »Panther D-G« entgegenstellen. Die im Kursker Bogen erstmalig in »Massen« eingesetzten, nicht frontreifen neuen »Wunderpanzer« blieben in großer Zahl mit Motorbränden, Kettenschäden usw. liegen, mussten gesprengt oder aufgegeben werden. Die anfangs überlegene Feuerkraft der neuen deutschen Panzertypen wurde schon im Herbst/Winter ’43 wieder eingestellt, z. T. sogar überboten (»T34/85«, »KW-85«, »JS-85«, »JS-1«, »JS-122«/»JS2« sowie Jagdpanzer und Sturmgeschütze »SU-85«, »SU-100«, »SU-122«, »SU-152«, »JSU-122«). Viele der aufgeführten Panzertypen waren den schweren deutschen Panzern (»Tiger I« und »II«), was Beweglichkeit betraf, weit überlegen, in der Feuerkraft mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen (Kaliber 122).
Eine detaillierte Aufführung der Leistungen und Daten der sowjetischen Rüstungsindustrie und Panzertechnik widerlegt die schon immer Urständ feiernde, jetzt erneut verstärkt auftretende Legende, dass vor allem die US-Waffenlieferungen die Sowjetunion vor der Niederlage bewahrt hätten. Mit ihren überragenden Waffen wie auch den »Stalinorgel« genannten Raketenwerfern oder der Ausrüstung für die Infanterie konnte die Rote Armee den faschistischen Vernichtungsfeldzug stoppen und Hitler-Deutschland besiegen.
Heute wird für den Mythos von der Überlegenheit deutscher Waffen (vor allem der Panzerwaffe) wieder propagandistisch verstärkt getrommelt; dies widerspiegelt der Welt-Kellerhoff-Artikel zwar indirekt, aber deutlich. Das Herausreißen der Panzerschlacht bei Prochorowka aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungen im Kursker Bogen, um damit einen Sieg der Faschisten herbeizuhalluzinieren, sowie auch noch die groteske »Empfehlung«, das Siegerdenkmal vor Ort abzureißen, zeugen von absolut dümmlicher Arroganz und Herrenmenschenmanier, die an Lächerlichkeit kaum mehr zu überbieten ist.
Ich hoffe, dass jW meinen Beitrag in irgendeiner Form verwenden kann, weil Geschichtsrevision und Russland-Hetze in einem atemberaubenden Tempo in der BRD weiter zunehmen.
Thomas Pelte, Berlin
Veröffentlicht in der jungen Welt am 02.08.2019.