Leserbrief zum Artikel Maghreb: Land im Umbruch
vom 23.07.2019:
Fragwürdige Euphorie
»Land im Umbruch«? Nicht vielleicht: »im Abbruch«?
Nach der Zerschlagung Libyens ist Algerien das afrikanische Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen unter den großen (vor ihm liegen nur einige kleine, meist Inselstaaten); es bietet damit ein Vorbild bzw. ist eine Herausforderung für die ärmeren und prowestlicheren Nachbarländer Marokko und Tunesien und erst recht die Länder des subsaharischen Afrikas. (Algerien verhält sich allerdings sehr »restriktiv« gegenüber Sahel-Wirtschaftsflüchtlingen – und das ist leider nur logisch.) Die innere Herausforderung (ja »Explosivität«) des Landes besteht in seiner demographischen Dynamik, was die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Nahrungsmittelversorgung für die anwachsende Bevölkerung und den Bau von Wohnungen für junge Familien in den Brennpunkt setzt.
Darauf bezogen, ist die erkennbar zu große Orientierung (bzw. der Verlass) des algerischen Staates auf die Erdgasexporterlöse bei letztlich ungenügenden staatlichen Bemühungen um Importsubstitution, Industriewarenexportproduktion bzw. eine höhere Veredelung der Exportgüter (hier des Flüssiggases z. B. zu Kunstdünger oder Plastikartikeln aller Art) schon gefährlich.
Doch die algerische Jugendrevolte könnte auch zu einer Zerschlagung all dieser – bisher ungenügenden, aber national notwendigen – Bemühungen zugunsten des »freien Marktes« führen – und damit zugunsten der transnationalen Konzerne.
Bei Revolutionen wie Revolten kommt ja üblicherweise selten das heraus, was die Mehrheit der Beteiligten gewollt hat.
Das erkennt der Verfasser aber offenbar nicht.
Korrespondierend dazu macht er einige m. E. nicht schlüssige Aussagen über die nationale Industrieentwicklung:
Es ist doch nie im Interesse der einheimischen Kapitalisten – eine solche Aussage disqualifiziert m. E. den gesamten Beitrag –, ihre Kapazitäten »nur zu 20 bis 25 Prozent« auszulasten bzw. die Anlagen »verrotten« zu lassen, wenn sie nicht im Konkurrenzkampf gegen billigere bzw. bessere Einfuhren unterlegen (bzw. dieser schutzlos ausgeliefert worden) wären; treten eingeführte industrielle Artikel an die Stelle einer Eigenproduktion, so ist das i. d. R. der technischen und preislichen Überlegenheit der ausländischen Waren m. E. meist ebenso geschuldet wie einer fehlenden Industrieentwicklungsstrategie der Regierung bzw. der bereits spürbaren gesellschaftlichen Dominanz der »Kompradorenburgeoisie« bzw. Import-Export-Handelsbourgeoisie (einschließlich mit ihr kollaborierender Teile der Staatsbürokratie) gegenüber dem produzierenden (»nationalen«) Kapital.
Da müsste der Staat »dagegenhalten«. Und das hat er wohl weitgehend aufgegeben.
Der UNIDO-Berater für Algerien Lies Kerrar führt als dringend entwicklungsbedürftig (und geeignet für Joint-Ventures etc.) an: 1. die Agroindustrie, besonders mit Bewässerungsanlagen – denn 60 Prozent des algerischen Nahrungsmittelbedarfs werden importiert, v. a. Getreide, Fleisch, Eier, Speiseöl und Zucker, während das doch fast alles im Lande selbst erzeugt werden könnte; 2. die Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien und 3. die Baustoffindustrie (wo bisher gleichfalls Importe eine große Rolle spielen).
Doch die »Jugendrevolte« könnte (und dürfte m. E. wohl eher) dahin führen, die offenbar schlecht funktionierende Mischung von Plan- und Marktwirtschaft der Gegenwart vollends durch eine »freie Marktwirtschaft« eventuell nach IWF- und Weltbank-Rezepten zu ersetzen – mit üblen Folgen dann auch für die internationale Rolle Algeriens. Und möglicherweise mit einem »großen sozialen Schock« zum Nachteil der Massen, die das alles mitgemacht oder doch zugelassen haben.
Unter diesem Aspekt frage ich mich schon, weshalb in der jW immer wieder ziemlich euphorische Beiträge über »antioligarchische« oder »antibürokratische Jugendrevolten« erscheinen. Weil die Autoren selbst noch jung sind? Und die Redakteure ebenfalls? Eine noch nüchternere Analyse der Klassenkräfte vor Ort könnte hilfreich sein. (Ausnahme war »der Maidan«, wo aber die beiden faschistischen bzw. pro-US-amerikanischen Pferdefüße der »rebellierenden Jugend« gleich erkennbar waren – da war ich auf meine jW immer stolz ...)
OK, so weit, so gut – denkt bitte mal darüber nach!
Nach der Zerschlagung Libyens ist Algerien das afrikanische Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen unter den großen (vor ihm liegen nur einige kleine, meist Inselstaaten); es bietet damit ein Vorbild bzw. ist eine Herausforderung für die ärmeren und prowestlicheren Nachbarländer Marokko und Tunesien und erst recht die Länder des subsaharischen Afrikas. (Algerien verhält sich allerdings sehr »restriktiv« gegenüber Sahel-Wirtschaftsflüchtlingen – und das ist leider nur logisch.) Die innere Herausforderung (ja »Explosivität«) des Landes besteht in seiner demographischen Dynamik, was die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Nahrungsmittelversorgung für die anwachsende Bevölkerung und den Bau von Wohnungen für junge Familien in den Brennpunkt setzt.
Darauf bezogen, ist die erkennbar zu große Orientierung (bzw. der Verlass) des algerischen Staates auf die Erdgasexporterlöse bei letztlich ungenügenden staatlichen Bemühungen um Importsubstitution, Industriewarenexportproduktion bzw. eine höhere Veredelung der Exportgüter (hier des Flüssiggases z. B. zu Kunstdünger oder Plastikartikeln aller Art) schon gefährlich.
Doch die algerische Jugendrevolte könnte auch zu einer Zerschlagung all dieser – bisher ungenügenden, aber national notwendigen – Bemühungen zugunsten des »freien Marktes« führen – und damit zugunsten der transnationalen Konzerne.
Bei Revolutionen wie Revolten kommt ja üblicherweise selten das heraus, was die Mehrheit der Beteiligten gewollt hat.
Das erkennt der Verfasser aber offenbar nicht.
Korrespondierend dazu macht er einige m. E. nicht schlüssige Aussagen über die nationale Industrieentwicklung:
Es ist doch nie im Interesse der einheimischen Kapitalisten – eine solche Aussage disqualifiziert m. E. den gesamten Beitrag –, ihre Kapazitäten »nur zu 20 bis 25 Prozent« auszulasten bzw. die Anlagen »verrotten« zu lassen, wenn sie nicht im Konkurrenzkampf gegen billigere bzw. bessere Einfuhren unterlegen (bzw. dieser schutzlos ausgeliefert worden) wären; treten eingeführte industrielle Artikel an die Stelle einer Eigenproduktion, so ist das i. d. R. der technischen und preislichen Überlegenheit der ausländischen Waren m. E. meist ebenso geschuldet wie einer fehlenden Industrieentwicklungsstrategie der Regierung bzw. der bereits spürbaren gesellschaftlichen Dominanz der »Kompradorenburgeoisie« bzw. Import-Export-Handelsbourgeoisie (einschließlich mit ihr kollaborierender Teile der Staatsbürokratie) gegenüber dem produzierenden (»nationalen«) Kapital.
Da müsste der Staat »dagegenhalten«. Und das hat er wohl weitgehend aufgegeben.
Der UNIDO-Berater für Algerien Lies Kerrar führt als dringend entwicklungsbedürftig (und geeignet für Joint-Ventures etc.) an: 1. die Agroindustrie, besonders mit Bewässerungsanlagen – denn 60 Prozent des algerischen Nahrungsmittelbedarfs werden importiert, v. a. Getreide, Fleisch, Eier, Speiseöl und Zucker, während das doch fast alles im Lande selbst erzeugt werden könnte; 2. die Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien und 3. die Baustoffindustrie (wo bisher gleichfalls Importe eine große Rolle spielen).
Doch die »Jugendrevolte« könnte (und dürfte m. E. wohl eher) dahin führen, die offenbar schlecht funktionierende Mischung von Plan- und Marktwirtschaft der Gegenwart vollends durch eine »freie Marktwirtschaft« eventuell nach IWF- und Weltbank-Rezepten zu ersetzen – mit üblen Folgen dann auch für die internationale Rolle Algeriens. Und möglicherweise mit einem »großen sozialen Schock« zum Nachteil der Massen, die das alles mitgemacht oder doch zugelassen haben.
Unter diesem Aspekt frage ich mich schon, weshalb in der jW immer wieder ziemlich euphorische Beiträge über »antioligarchische« oder »antibürokratische Jugendrevolten« erscheinen. Weil die Autoren selbst noch jung sind? Und die Redakteure ebenfalls? Eine noch nüchternere Analyse der Klassenkräfte vor Ort könnte hilfreich sein. (Ausnahme war »der Maidan«, wo aber die beiden faschistischen bzw. pro-US-amerikanischen Pferdefüße der »rebellierenden Jugend« gleich erkennbar waren – da war ich auf meine jW immer stolz ...)
OK, so weit, so gut – denkt bitte mal darüber nach!
Veröffentlicht in der jungen Welt am 23.07.2019.