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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Ruanda: Mehr als ein ethnischer Konflikt vom 15.07.2019:

Ethnosoziale Aspekte nicht vergessen

Dass der deutsche Kolonialismus die Ruander oder Banyarwanda in Batutsi (Tutsi) und Bahutu (Hutu) sowie Twa aufgeteilt, diese Teilung also »erzeugt« habe, ist m. E. unrichtig. Zutreffend ist, dass die Deutschen, wie andere Kolonialmächte jeweils auch, bereits bestehende ethnosoziale Unterschiede ausgenutzt und hochgespielt haben (»Divide et impera«). Die Königreiche Rwanda und Burundi waren zweifellos »Tutsi-Staaten«, Ergebnisse der Einwanderung und Eroberung dieser Bergländer durch das Hirtenvolk der Tutsi oder »Watussi«. Auf diese frühfeudalen Staaten und den damit vorhandenen »Tutsi-Adel« stützte sich nach der Aufteilung Afrikas die deutsche Kolonial- und später die belgische »Völkerbundsmandats«-Verwaltung. Mit dem Streben der Tutsi-Elite nach Unabhängigkeit war 1959 die neokoloniale Fortführung der belgischen Herrschaft bedroht, und man baute eine Gegenkraft auf, die Hutu-Bewegung. Damit war nun ihrerseits diese Tutsi-Minderheitsherrschaft akut bedroht. Tatsächlich forcierten ehemalige Kolonialstaaten wie Frankreich und Belgien sowie westliche Kirchen bewusst die rasche Herstellung der »Herrschaft der Mehrheit« im ethnischen Sinne, de facto dann bis zum Versuch der Ausrottung der Minderheit. Tatsache ist dabei: Tutsi und Hutu unterscheiden sich i. d. R. durchaus, erstere als Nachfahren eingewanderter »nilotischer« Stämme sind meist noch immer deutlich größer als Hutu; das mag auch mit Ernährungstraditionen zu tun haben, in deren Mittelpunkt über Jahrhunderte das »Watussi-Rind« stand. »Die Viehhalter« waren in Ruanda »die Tutsi« – das musste die deutsche Kolonialverwaltung nicht »erfinden«. Ihre Alltagssprache dagegen – Voraussetzung für eine künftige bürgerliche Nation aller Ruander – war wie die der Hutu längst (einheitlich) »Kinyarwanda«, also Rwandisch, geworden.
Nach der ersten Tutsi-Vertreibung 1959/60 hatte sich in Uganda eine »Patriotische Front« v. a. von Tutsi gegen die nun in Rwanda herrschende »neue Elite« von Hutu gebildet, deren Verkehrssprache dort Englisch wurde. Schon deshalb – Selz vernachlässigt das, aber man kann das m. E. nicht – war mit der Stärkung dieser Exilbewegung die französisch-belgische Dominanz in Kigali bedroht! Mit Hilfe dieser imperialistischen Mächte konnte die (huturassistisch dominierte) Armee Ruandas in dem am 1. Oktober 1990 begonnenen Bürgerkrieg v. a. an der Grenze mit Uganda zwar zunächst standhalten, aber doch nicht siegen. Der Waffenstillstand zwischen »Hutu-Armee« und der von den USA und Uganda unterstützten »Rwandan Patriotic Front« endete dann – wie Selz es darlegt – mit dem Abschuss der Maschine von und mit Staatspräsident Habyarimana und den folgenden Greueln der Mehrheit der Hutu gegenüber »den vaterlandsverräterischen Tutsi«. Es folgten der Vormarsch der »RPF-Rebellen« auf Kigali und der Sieg Kagames. Den will er sich nun nicht nehmen lassen. Uns als Linke bzw. Marxisten m. E. sollte es immer darum gehen, deshalb dieser Leserbrief, Klassen und Klassenkampf, beginnend im vorkolonialen Afrika, zu beachten und auch »ethnische«, in Wahrheit ethnosoziale Konflikte auch in ihrer brutalsten Form wie diesem rassistischen Massaker noch unter dieser »Maskierung« zu erkennen, statt sie – wie Selz es m. E. tut – zu vernachlässigen und damit zugleich vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften eine Harmonie zuzuschreiben, die es nicht gab.
Dass der deutsche Kolonialismus Völkermord (in Namibia) und Ausrottungsfeldzüge u. a. auch in Tanganyika (»Deutsch-Ostafrika«) auf dem Kerbholz hat, ist dabei völlig unbestritten.
Volker Wirth, Berlin
Veröffentlicht in der jungen Welt am 23.07.2019.