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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel »Aufstehen« als Basisbewegung: Vernetzen statt ersetzen vom 30.04.2019:

Aufstehen – und dann?

Da nahezu alle Bürger mit diesem Thema konfrontiert sind und sich angesprochen fühlen sollten, möchte auch ich meine Überlegungen einbringen:
– Man sollte m. E. davon ausgehen, dass sich das Ausmaß der Ungerechtigkeit in der Welt und auch etwa im eigenen Land materiell darin äußert, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerung über 90 Prozent des Volksvermögens verfügen und sich 90 Prozent der Bevölkerung die restlichen zehn Prozent des Vermögens teilen müssen. Das führt in den ärmeren Ländern zu bitterster Armut, Not und Elend, so dass immer größere Menschenmassen durch die Flucht in andere Länder versuchen, dem Elend zu entgehen, ungeachtet der Tatsache, dass auch hier massive soziale Probleme bestehen. Eine entscheidende Ursache dafür ist, dass die Wirtschaft, als die entscheidende Lebensgrundlage und als bedeutendes Machtmittel, weithin auf privaten Eigentumsverhältnissen beruht und grundsätzlich nach privat-egoistischem Gewinn- und Vorteilsdenken betrieben wird. Eine solche Wirtschaft orientiert sich nicht primär an dem Bedarf der eigenen Bevölkerung, sondern grundsätzlich, in nationaler wie internationaler Hinsicht, an den sich bietenden größten eigenen Gewinnmöglichkeiten. Die Grundinteressen und Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung stellen dabei bestenfalls nur einen spekulativen Marktfaktor dar. Auch perspektivischen Vorhaben liegen die gleichen privat-egoistischen Interessen zugrunde. In der entwickelten Welt wächst daher die Erkenntnis, dass der Schlüssel für die Lösung der wachsenden Probleme in dem Sturz der kapitalistischen Verhältnisse liegt. So erklärt sich auch, dass in der Welt wie im eigenen Land immer nachdrücklicher Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit nach Frieden und Freiheit erhoben und mit der Forderung zum Sturz des kapitalistischen Systems verbunden werden.
Ein in der BRD gegenwärtig vieldiskutiertes Problem ist die von dem Juso-Vorsitzenden, Kevin Kühnert, angeregte Enteignung des VW-Konzerns. Das bedeutet aber keinesfalls, dass eine solche partielle »Hinwendung« zu vermeintlich »sozialistischen Eigentumsformen« eine entscheidende Lösung und bereits einen Schritt zur Schaffung eines sozialistischen Systems darstellt. Allerdings könnte sie in Verbindung mit den Forderungen nach Gleichberechtigung und Gerechtigkeit zu nützlichen Erkenntnissen und Erfahrungen führen und zum Kampf für ein sozialistisches Gesellschaftssystem motivieren. Das mit den Forderungen von Kevin Kühnert ausgelöste dümmlich-dreiste Geschwätz seiner Kritiker in der Sozialdemokratie von »Sozialismuspraktiken« usw. unterstreicht nur, wieweit diese Leute von fundierten gesellschaftlichen Grunderkenntnissen entfernt sind. So einleuchtend und sympathisch die Forderung von Kevin Kühnert auch scheinen mag, so ist das m. E. unter den gegenwärtigen Bedingungen völlig illusionär. Dass mit Hilfe eines bürgerlichen Staates ein privategoistisches Vorteilstreben in der Wirtschaft zu begrenzen oder in gesellschaftlichem Interesse zu steuern wäre, wie es immer wieder vorgegaukelt wird, ist sehr unwahrscheinlich und hat sich in der Realität noch nie erwiesen.
– Ein weiteres, die gesamte Menschheit betreffendes brennendes Problem sind die wachsenden Anzeichen einer drohenden Klimakatastrophe. Wenn das stimmt, was kompetente Wissenschaftler wie Frau Prof. Dr. Antje Boetius oder Prof. Dr. Harald Lesch und die vielen anderen Forscher voraussagen, dass der Klimawandel und die damit drohende Katastrophe nach zehn bis zwölf Jahren nicht mehr umkehrbar seien und die »Zukunft bereits kaputt« sei, steht die Uhr viel kürzer vor zwölf, als man uns über alle offiziellen Kanäle einzureden versucht. Das bezieht sich u. a. auf die Luftverschmutzung durch den ungezügelten CO2-Ausstoß, die Plastikvermüllung in aller Welt und die zu befürchtenden Überschwemmungen einerseits und Wüstenbildungen andererseits. Hinzu kommt folgende unvorstellbare Tatsache: Was in Milliarden Jahren auf der Erde an Ressourcen wie Erzen, Erdöl oder Kohle entstanden ist, brauchen wir durch unseren verschwenderischen Umgang in wenigen Jahrzehnten auf. Es ist unseren Kindern gegenüber beschämend und verantwortungslos, ihnen eine so fragwürdige Zukunft zu hinterlassen. Seit Jahrzehnten fordern die Wissenschaftler von den Verantwortlichen der Staaten, endlich durch wirksame Schritte und Investitionen gegenzusteuern und die Ressourcen für die Zukunftssicherung der Menschheit einzusetzen. Offensichtlich glauben die Herrschenden aber, die Folgen mit Waffengewalt eindämmen zu können. Daher investieren sie horrende Summen in ihre Rüstung und stationieren ihre Truppen in aller Welt, in der Absicht, die von ihnen gebilligten Systeme zu erhalten oder wiederherzustellen und sich den Zugriff zu dortigen Ressourcen zu sichern.
Wann lernt die Menschheit endlich, sachkundigen Wissenschaftlern zu folgen, statt sich von den Beschwichtigungsversuchen der Herrschenden einlullen zu lassen? Erst dann, wenn die Menschen die gesellschaftlichen Zusammenhänge dieser Art erkennen, werden sie »aufstehen« und für die Durchsetzung ihrer Interessen kämpfen. Daher sollten wir nicht nachlassen, die Kenntnisse über die eigentlichen Hintergründe der vielfältigen Probleme dieser Welt in die Bevölkerung zu tragen.
Im übrigen lässt das Grundgesetz bei sachgerechter Interpretation das Mitwirken in diesem Sinne nicht nur zu, sondern fordert es! Im Kommentar zum Artikel 14.2 des GG heißt es:
»Das Eigentum berechtigt nicht nur, sondern verpflichtet auch. Wo sozial höherrangige Interessen der Gemeinschaft berührt werden, muss das Recht des einzelnen auf ungeschmälerten und ungestörten Genuss der in seinem Eigentum stehenden Sachen weichen. (…) Er muss sich am Wohl der Allgemeinheit orientieren, das nicht nur Grund, sondern auch Grenze für die Beschränkung des Eigentümers ist.« (Kommentar für die politische Bildung, Luchterhand 1991)
In dem dargelegten Sinne aufzustehen und zu handeln ist daher das Gebot der Stunde!
Dr. Heinz Günther, Berlin
Veröffentlicht in der jungen Welt am 16.05.2019.