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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Geschichte: Revolutionäre Ungeduld vom 01.04.2019:

Beten und arbeiten

Schon die Rede von der »ersten deutschen Arbeiterbewegung« sowohl in der Unterüberschrift der Rezension als auch im Titel des besprochenen Buches ist doch für die deutsche Geschichtsschreibung irreführend. Es gab in Deutschland nur eine Arbeiterklasse, und so kann es auch nur eine Geschichte ihrer Entstehung und ihrer Bewegung geben. Dazu gesellt sich, dass der Leser gleich am Anfang der Ausführungen darauf eingestellt wird, dass der Autor aus seinen Sympathien für Rosa Luxemburg sowie die »rechte« KPD-Opposition in der Weimarer Republik kein Geheimnis macht, dann wird eigentlich schon am Anfang der Darlegungen klar, auf welcher Welle er reitet. Rosa Luxemburg mit irgendeiner »rechten« Opposition (KPO) in der KPD gleichzustellen, das verbietet sich eigentlich schon von selbst. Rosa hat die Entwicklung der KPD nicht lange miterlebt, sie wurde ja bekanntlich von Reichswehroffizieren 1919 ermordet, so wie Karl Liebknecht, und beide waren Mitgründer der Kommunistischen Partei Deutschlands. Übrigens unterstand die Reichswehr, die den Mord ausführte, dem Reichswehrminister Noske, einem Sozialdemokraten.
Es ist auch kritisch zu hinterfragen, wieso Herr Dallmer davon ausgeht, dass sich die deutsche Arbeiterbewegung erst vom Vormärz bis 1914 herausgebildet habe. Eine solche Feststellung ist Klitterung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.
Diese Geschichte beginnt bereits mit dem Bund der Geächteten und dem Bund der Gerechten, deren bedeutendster Vertreter Wilhelm Weitling war. Später wurde im Proletariat oder auch der Arbeiterklasse durch die Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus eine politische Haltung geweckt, eine Befreiung von ihren Fesseln aufgezeigt. Besonders hilfreich für die Popularisierung dieser Idee war die Neue Rheinische Zeitung, herausgegeben von Karl Marx und Friedrich Engels. Diese umfangreiche Entwicklungsgeschichte will ich hier nicht weiter verfolgen, weil das zu einem sehr umfangreichen, geschichtspolitischen Artikel führen würde.
1867 wurde der bis zu seinem Tode für die Arbeiterklasse tätige August Bebel Präsident der Deutschen Arbeitervereine. Zusammen mit Wilhelm Liebknecht schuf er die erste Sozialdemokratische Partei, genannt die Eisenacher. Er führte diese Sozialdemokratische Partei bis zu seinem Tod 1913. Dass danach die Führung von revisionistischen und opportunistischen Kräften übernommen wurde, was sich bis heute auch nicht geändert hat, ist durch ihr bourgeoise, kapitalismusfreundliche Haltung bewiesen. Trotz dieser politischen Entwicklung der SPD ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass »von einem Verrat der SPD an der Revolution« Herr Dallmer »nur bedingt sprechen will«, ist allerdings schon ein starkes Stück. Wie kann die gewaltsame Entmachtung der Arbeiter- und Soldatenräte durch die von Noske befehligten Reichswehrbanditen, die auf das Leben anderer keine Rücksicht nahmen, (…) »materielle Gründe« gehabt haben? Die brutale Vernichtung, dieses Brechen des Kampfwillens der Arbeiter- und Soldatenräte, was mit dem Matrosenaufstand in Kiel begann und sich über das gesamte Land ausbreitete, mit Waffengewalt zu ersticken, hatte keine materiellen Gründe, es war Verrat an der deutschen Arbeiterklasse. Noske schätzte sich ja selbst ein: »Einer muss doch der Bluthund sein!«
Wenn Herr Dallmer meint, es ging der SPD nicht um »Verrat«, sondern »nur« um die Erhaltung der Machtstrukturen in Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Politik und Militär, dann muss man schon sagen, wahrhaftiger kann man den begangenen Verrat nicht erklären, weil das zusammengenommen den Machterhalt der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung und deren Eliten bedeutet.
Dieser Verrat war Anstoß für die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands, hervorgegangen aus dem Spartakusbund und der 1920 erfolgten Vereinigung mit dem größten Teil der Mitglieder der USPD, denn für eine proletarisch-revolutionäre Partei als Vorhut der Arbeiterklasse war das alternativlos.
Das sich eine KPO (Kommunistische Partei Opposition) gegründet hatte, ist eigentlich für mich nicht erwähnenswert, weil sie politisch in Deutschland keine, aber auch gar keine Rolle spielte. Wenn in seinem Buch diese paar hundert Abtrünnigen hochstilisiert werden, beweist das nur eine bestimmte Zielstellung die er mit diesem Buch erreichen will.
Natürlich war die Arbeiterklasse gespalten, weil ein sich herausgebildeter revolutionärer Kern durch die Haltung der opportunistischen und revisionistischen Kräfte in der Führung der SPD keine Chance sah, diese Partei auf den richtigen Weg als Avantgarde des Proletariats zu bringen.
Es ist eine revisionistische Haltung des Schreibers des vorgestellten Buches, dem Leser zu suggerieren, »der deutsche Kommunismus scheiterte an der revolutionären Ungeduld«. Hier werden wieder einmal Ursache und Wirkung verdreht. Natürlich erkannte man seit 1913, wohin die opportunistischen Führer die SPD getrieben haben, und so ist es richtig, davon auszugehen, dass eine frühere Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands anlässlich des Matrosenaufstandes und eine danach erfolgte Ausbreitung über das ganze Land den Arbeitern eine politische Führung zur Seite gestellt hätten. Was die Verquickung mit Rosa Luxemburgs Forderung nach Teilnahme an den Wahlen soll, ist schleierhaft, davon auf eine entstandene Isolierung der Kommunistischen Partei zu schließen, ist nicht nur eine unbewiesene und verdrehte Darstellung, sie ist schlichtweg falsch. Selbst diese dazu herhalten sollende fadenscheinige Begründung, die Mehrheit der Arbeiterklasse habe Illusionen zum Parlamentarismus »nachgehangen«, ist so falsch wie das vorher Gesagte. Eine Zwischenfrage sei mir erlaubt: Warum kommt die zum Parlamentarismus »übergelaufene« Partei Die Linke in der Bundesrepublik nicht über neun Prozent Stimmenanteil hinaus, wo doch gegenwärtig Parlamentarismus den Klassenkampf ersetzt?
So nimmt es auch nicht wunder, wenn Herr Dallmer flugs daran anschließt, dass die KPD Ende der 20er Jahre unter Ernst Thälmann eine »revolutionäre Isolierung« erfuhr. Was will er den Menschen auftischen? 1929 hatte die KPD 127.000 und im November 1932 330.000 Mitglieder. Wie sollte so eine Partei isoliert sein, wenn sie bei den Wahlen 1932 16,9 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinte und damit 100 Reichstagsmandate erzielte? Hier schreibt er wohl seine geheimen Wünsche als Tatsachen nieder?
Was für eine Beleidigung ist die Aussage in dem Artikel, wenn er behauptet, die KPD habe sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise von einer Arbeiter- zu einer Arbeitslosenpartei entwickelt. Nahezu sechs Millionen Arbeitslose und weitere Millionen bei eingefrorenen Arbeitslöhnen – will Herr Dallmer diesen Menschen ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse absprechen? Das ist wahrlich eine eigenartige Ansicht für eine geschichtliche Darstellung der deutschen Arbeiterbewegung.
Es stimmt allerdings, man sollte dem Inhalt des Buches nicht folgen, weil es keine gelungene, sondern eine gelogene Überblicksdarstellung zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ist – und seine Darstellung am Schluss ist bezeichnend:
»Wenn Meuterei wieder erste Passagierpflicht wird, sollte man sich vergangene Erfahrungen nutzbar machen, denn wer aus der Geschichte nichts lernt, läuft Gefahr, sie zu wiederholen.«
Die neoliberale, bürgerliche Politik in der Bundesrepublik Deutschland lässt grüßen. Nicht aufmüpfig werden, bleib immer schön Untertan der Obrigkeit – bete und arbeite. So wünschen sich Leute seines Schlages die Arbeiterklasse in dieser Republik.
Klaus Glaser

Kommentar jW:

Auf diesen Leserbrief antwortete Buchautor Klaus Dallmer:

Als August Bebel 1913 starb, war er längst kein revolutionärer Arbeiterführer mehr. Nicht nur die SPD- und Gewerkschaftsführungen, sondern auch die große Mehrheit der Mitgliedschaft war auf dem Weg der Integration ins System, bedingt durch die kleinen Erfolge der Gewerkschaftsbewegung und der Vertretung in den Parlamenten, durch den immer stärker werdenden Stimmenzuwachs der SPD bei den Wahlen. 1912 gab es 12.400 Tarifverträge, und 100.000 Gewerkschafter und Sozialdemokraten waren meist ehrenamtlich bei den Sozialversicherungen, den Arbeitsnachweisen, den Parlamenten tätig. Einigendes Band war noch immer das Bekenntnis zum sozialistischen Zukunftsstaat, aber bei der großen Mehrheit von Mitgliedschaft und Führung bestand allenfalls die Hoffnung, das über parlamentarische Mehrheiten irgendwann durchsetzen zu können, oder es war zum Lippenbekenntnis verkommen. Die Parteilinke um Rosa Luxemburg hatte über Jahrzehnte die Vorstände vergeblich gedrängt, die großen Organisationen für politische Massenkämpfe einzusetzen – die Führungen aber fürchteten die Lernprozesse der Massen. Die SPD-Führung sah ihre Hauptaufgabe darin, die Flügel der Partei zusammenzuhalten – dementsprechend rückte sie immer weiter nach rechts, und es war nur konsequent, dass auf den Vorsitzenden Bebel der Organisationssekretär beim Parteivorstand, Friedrich Ebert, folgte. Als Deutschland den Krieg provozierte, war die Opposition gegen das »Weiter so« – nun beim Mitorganisieren des Krieges – so gering und schwach, dass die Führung einschließlich der Oppositionellen für die Kriegskredite stimmte, statt zum Widerstand aufzurufen, Zuchthaus oder Hinrichtung zu riskieren und die Organisationen zum Teufel gehen zu lassen. Natürlich war das Verrat an den sozialistischen Idealen, aber der Verrat erklärt sich eben nicht aus ideologischen Abweichungen, sondern aus der materiellen Entwicklung.
Die ausgefuchsten Taktiker der SPD-Führung haben sich schon am 9. November 1918 vom Trittbrett der Revolution an ihre Spitze geschwungen, um das Wachsen der sozialen Revolution zu verhindern, das drohte, ihren politischen Ansatz und sie selbst wegzuschwemmen. Deshalb verbanden sie sich mit der überflüssig werdenden Obersten Heeresleitung und schlugen die revolutionären Ansätze mittels Massenmord nieder. Dies konnten sie nur durchsetzen, weil die Mehrheit der Arbeiterklasse noch an den reformistischen Weg, die Einführung des Sozialismus über Parlamentsbeschlüsse glaubte und die Revolutionäre als Störenfriede auf diesem friedlichen Weg empfand. Die acht Monate Zeit, die die russische Arbeiterklasse von ihrer Februarrevolution bis zur Oktoberrevolution für ihre Lernprozesse brauchte, hatte die deutsche Arbeiterklasse nicht. Dieser sozialdemokratisch verkleidete Massenmord war es, der den Kapitalismus rettete und die revolutionäre Minderheit der Arbeiterklasse in die empörte Isolierung trieb. Zeitweise konnten Fraktionen der schnell wechselnden KPD-Parteiführungen gegen diese Stimmung ihrer Mitglieder eine rationale, langfristige Parteipolitik zur Gewinnung der Mehrheit der Klasse durchsetzen, wie Rosa Luxemburg sie auf dem Gründungsparteitag gefordert hatte – durch Einheitsfrontangebote brachte man die reformistischen Führungen unter den Druck der SPD-Mitglieder, so bei der Kampagne zur Fürstenenteignung. Meist aber bekamen die Linksradikalen in der KPD die Oberhand und verstärkten die Isolierung – den Kommunisten war es zeitweise untersagt, sozialdemokratischen Kollegen die Hand zu geben. Am Ende der Weimarer Republik waren 85 Prozent der KPD-Mitglieder arbeitslos, denn die Schaffung eigener roter Gewerkschaftsverbände hatte es den Unternehmern leicht gemacht, die Kommunisten hinauszusäubern, und diese Verbände waren zum Streiken viel zu schwach. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsführungen förderten die kommunistische Isolationspolitik nach Kräften, so durch die Morde beim 1. Mai 1929, denn sie wussten: wenn die Einigkeit der Arbeiterklasse zustande käme, wäre ihre Zeit abgelaufen. So ebnete die Sozialdemokratie durch Passivität und Verhinderung des Widerstandes dem Faschismus den Weg. Die KPD fiel immer wieder darauf rein, stieß die sozialdemokratische Mitgliedschaft durch Beschimpfung als »Sozialfaschisten« von sich ab und versagte vor ihrer historischen Aufgabe, die Arbeiterklasse zur revolutionären Einigkeit zusammenzuführen.

Veröffentlicht in der jungen Welt am 05.04.2019.