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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Massenmord der Nazis: Getarntes Verbrechen vom 15.12.2018:

Leidensweg

Wir sind eine Familie mit zwei schwer Behinderten. Mein Bruder und meine Schwester sind von Geburt an blind und hirngeschädigt. Vom Grad ihrer Behinderung her könnte man einschätzen, dass sie sich auf einem noch frühkindlichen Niveau befinden. Ich bin deren noch verbliebener einziger Angehöriger. Seit nunmehr mehr als zehn Jahren kämpfe ich um die Betreuung, die ich gerade mal seit Ende Mai dieses Jahres habe, aber nur für meine Schwester und nur mit dem Aufgabenkreis der Gesundheitssorge.
Zum Thema »T-4-Programm« gibt es nach meinen Recherchen folgendes noch zu sagen. Begonnen hat dies mit einem Vorfall, einer Familie, stramm »nationalsozialistisch«, die ein behindertes Kind hatte und es loswerden wollte. Nun war es damals nicht so, dass man einfach mal so Behinderte umbringen konnte. Das war nicht möglich. Von allen, an die die Familie sich wandte, erhielt sie Absagen, bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich »hilfesuchend« an den »Führer« wandte, damit er sie verstehe und dabei behilflich sei, ihr Kind vom seinem Leiden »zu erlösen«. »Der Führer« war natürlich gern behilflich, handelte es sich doch um nutzlose Mitesser. Das »T-4-Programm« entstand. In Berlin in einer Villa Tiergartenstraße 4 waren dann »Gutachter« bzw. Psychiater tätig, die anhand der Krankenakten entschieden, wer leben durfte und wer nicht (schwarzes/rotes Kreuz auf der Akte).
In der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein gibt es umfängliche Literatur. Hieraus ergibt sich leider, das muss man als Kommunist selbstkritisch zur Kenntnis nehmen, dass es in der Geschichte der Arbeiterbewegung leider auch einige weiße Flecken gibt, was den Umgang mit Behinderten betrifft.
Ja, die Angehörigen wurden weder über die Begutachtung der Betroffenen noch über die Todesumstände informiert. Sie erhielten die Sterbeurkunden mit einer falschen Todesursache.
Dennoch, aufgrund der hohen Anzahl der Sterbefälle von Behinderten in den Anstalten blieb das in der Bevölkerung nicht unbemerkt. Es war die katholische Kirche, die intervenierte, ja sogar der damals als Nazisympathisant geltende Papst – ich glaube, es war Pius XII – protestierte. 1941 wurde das »T-4-Programm« offiziell daraufhin eingestellt, aber inoffiziell fortgeführt.
Zu den »Gutachtern« gehörte nach 1941 auch ein gewisser Prof. Dr. Vilbiger, der, nebenbei gesagt, sich im Wehrbezirkskommando Breslau besonders hervortat. Er hatte die Aufgabe, kriegstraumatisierte Wehrmachtsangehörige zu begutachten. Er stempelte sie fast alle als Simulanten ab. Das war deren sicheres Todesurteil. Besagter Prof. Dr. Vilbiger war 1958 Gründungsmitglied des Vereines »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind« und war damals selbstverständlich NSDAP- und auch SA-Mitglied. Zu den Gründungsmitgliedern zählte auch ein gewisser Dr. Stutte, Kinder- und Jugendpsychiater. Der hatte sich im »Dritten Reich« zum Thema »Euthanasie« habilitiert. Der war auch NSDAP- und SA-Mitglied.
Zu den Gründungsmitgliedern 1958 zählte auch ein Richter a. D. Mir ist es nicht gelungen, über den etwas herauszubekommen. Ich habe den Verdacht, dass er Richter an einem Erbgericht war. Erbgerichte verfügten beispielsweise über die Zwangssterilisierung von Behinderten und deren Angehörigen. Ich wäre in dem zwölf Jahre andauernden 1.000jährigen Reich schon lange zwangssterilisiert worden. Das gehört auch mit zu dem Komplex des Leidensweges von Behinderten und deren Familien im »Dritten Reich«.
Rainer Hesse