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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Unteilbar-Demo in Berlin: »Rassismus ist keine Alternative« vom 20.10.2018:

Ausführliche Stellungnahme zu »Unteilbar«

Seit Längerem bin ich begeisterter Leser Ihrer Wochenendausgabe und stimme mit Ihnen vollkommen in der Beurteilung der Rolle der jungen Welt in der Medienlandschaft überein. Hinsichtlich der »Unteilbar«-Bewegung drängt es mich aber, besonders im Hinblick auf den Beitrag »Rassismus ist keine Alternative« in der Ausgabe vom 20./21. Oktober, Ihnen meine Gefühle zur gesamten damit in Verbindung stehenden Problematik zu schreiben. Zunächst, natürlich ist niemand Aufrechtes für Rassismus. »Solidarität statt Ausgrenzung – für eine offene und freie Gesellschaft«, das klingt natürlich gut, aber wenn dann weiter angeprangert wird, dass eine dramatische politische Verschiebung nach rechts stattfinde, dann ist das zumindest ungenau und täuscht in m. E. nicht akzeptabler Weise darüber hinweg, dass all die Dinge und Verhältnisse, die von »Unteilbar« angeprangert werden, längst gesellschaftliche Realität, nur bisher vielleicht nicht so offen zutage getreten sind. All die Missstände, die bspw. unter https://www.unteilbar.org/ dargestellt werden, sind doch leider nur eine Facette des gewöhnlichen Kapitalismus, der spätestens seit dem unrühmlichen Ende des kommunistischen Weltsystems ungebremst in der Welt wütet. Ich, Jahrgang 1951 und in der DDR sozialisiert, werde das Gefühl nicht los, dass die 240.000, die am 13. Oktober in Berlin demonstriert haben, benutzt worden sind. Denn sie legitimieren das System! Ich weiß, diese Auffassung ist sicher in vieler Augen streitbar, aber ich will mal versuchen, sie zu begründen. Ihr Autor Peter Steiniger schreibt: »Berlin bleibt bunt«, und die Überschrift des Beitrag lautet: »Rassismus ist keine Alternative«. Ausgangspunkt ist offensichtlich ein erhaltenswerter Zustand, ein buntes Berlin und die offene Frage, wozu denn der bekämpfte Rassismus überhaupt als Alternative erscheine. In der öffentlichen Wahrnehmung wird damit das Land des drittgrößten Rüstungsexporteurs als so eine Art bunter, weltoffener Oase dargestellt, in der schon alles gut ist und die darüber hinaus (selbstverständlich) auch frei von Rassismus sei. Aber das Gegenteil ist doch der Fall! Aufgebaut und auf den Weg gebracht von Altnazis aller Couleur, regiert von beispiellosem Lobbyismus, wie gerade die jüngsten Vorgänge um den sogenannten Dieselskandal überdeutlich zeigen, mit tagtäglich von Staats wegen praktiziertem Rassismus, wie bereits die noch immer nicht überwundenen Unterschiede im Einkommen, in der Rente und im Wohlstand nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd sowie zwischen Arm und Reich überdeutlich zeigen, haben wir es doch mit einem Gemeinwesen zu tun, in dem durchaus Grundsätzliches nicht zum Besten steht. Denn wie anders als Rassismus kann es denn genannt werden, wenn es z. B. in einem Unternehmen vier Kategorien Lohnempfänger (Beispiel Kraftfahrer) gleicher Beschäftigung gibt, Deutsche aus West, Deutsche aus Ost, Ausländer aus EU und Ausländer aus Nicht-EU! Ich will das an dieser Stelle gar nicht weiter vertiefen, eigentlich ist all das ja allgemein bekannt. Jedenfalls entsteht bei »Unteilbar« der Eindruck, als werde das Merkelsche Mantra »Deutschland geht es gut« befördert. Und wir tappen besonders beim Umgang mit der Migration in aufgestellte Fallen, wenn wir, wie die Linkspartei anschaulich demonstriert, die Zuwanderungs-/Flüchtlingsfrage gewissermaßen vor die Klammer ziehen. Als wenn das Problem von Krieg und Flucht wovor auch immer neu und besonders relevant wäre. Auch das ist gewöhnlicher Kapitalismus, und da hilft es nichts, wenn ich mich auf der Demo besonders weltoffen gebe oder wie die Linken lang und breit über offene Grenzen diskutiere, als Regierung dann aber wie in Thüringen sogar mit einem Ministerpräsidenten das Geschäft dieses Kapitalismus in gleicher Weise weiterführe! Und so ist es doch, wieder nur als Beispiel, hat hier die rot-rot-grüne Landesregierung die von der CDU-Vorgängerregierung eingeführte Politik des Kaputtsparens der Gemeinden nahtlos fortgeführt. Losungen wie »Herz statt Hetze«, »Gegen Rassismus«, »Gegen Hass« und dergleichen verkleistern m. E. den Blick auf das Wesen des Systems, denn Rassismus in spezifischen Formen ist in unserer Gesellschaft und in der Welt bereits Alltag! Die Forderung nach einer solidarischen Gesellschaft signalisiert mir darüber hinaus, dass ich mit Elon Musk oder Mark Zuckerberg oder gar solchen Leuten wie George Friedman solidarisch sein soll, und wenn gegen Hass demonstriert wird, dann sehe ich mich in meinem Recht beeinträchtigt, auch hassen zu dürfen. Ja, es gibt Menschen, Dinge und Verhältnisse, die ich hasse! Menschen: genannter George Friedman und auch Zbigniew Brzezinski, ausgemachte Kriegstreiber, die Profit und Macht über das Lebensrecht der Menschen stellen. Oder als Eigenschaft die Gier mancher Menschen, immer mehr besitzen zu wollen. Will sagen, mit solchen undifferenziert formulierten Allgemeinplätzen wie in den Aufrufen von »Unteilbar« werden die wirklichen Probleme unserer Gesellschaft wie der Welt überhaupt verwässert und das Geschäft des Großkapitals besorgt. Und was besonders auffällt, »Unteilbar« kommt als Reaktion auf »Aufstehen« von Sahra Wagenknecht genau in dem Moment, wo die Massenwirksamkeit dieser Bewegung einzusetzen beginnt. Kein Wunder, dass dann sogar der Außenminister diese Demo unterstützt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/unteilbar-demonstration-berlin-heiko-maas. Ein Schelm, der Arges dabei denkt!
Jürgen Keller, Schmölln

Kommentar jW:

Zu diesem Leserbrief schrieb Herbert Münchow:

Jürgen Kellers Überlegungen sind in wesentlichen Punkten ganz sicher nicht von der Hand zu weisen. Deshalb gab es ja schon im Vorfeld von »Unteilbar« manche Auseinandersetzung. Es gibt aber noch weitere Seiten dieser Demonstration, die beachtet werden sollten. Zunächst kann man festhalten, dass die Forderungen, die dort vor Ort aus der Masse laut wurden, keineswegs so allgemein geblieben sind wie der Demoaufruf. Da ging es oftmals schon zur Sache, wurde das Soziale in den Mittelpunkt gerückt – und damit das Politische. Was mir aber besonders wichtig erscheint: Keiner – auch nicht der größte Optimist – hat damit gerechnet, dass 240.000 Menschen zusammenkommen. Kein noch so revolutionäres Programm macht Sinn, wenn nicht immer davon ausgegangen wird, dass Massen auf die Straße gehen, um zu fordern. Deshalb zeigt das vielfach geäußerte Erstaunen über die Masse, dass wir aufpassen müssen, den Ereignissen nicht hinterherzulaufen. Mit marxistischer geduldiger Aufklärung müssen wir in der Masse vorbereiten, was aus der Masse selbst erwächst. Denn was lehrt uns die Novemberrevolution 1918/19, deren 100. Jahrestag wir begehen? Kommt die Masse in Bewegung, entscheidet die Frage der Führung zum Schluss alles.