Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Gegründet 1947 Freitag, 19. April 2024, Nr. 92
Die junge Welt wird von 2767 GenossInnen herausgegeben
Jetzt zwei Wochen gratis testen. Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Jetzt zwei Wochen gratis testen.

Leserbriefe

Liebe Leserin, lieber Leser!

Bitte beachten Sie, dass Leserbriefe keine redaktionelle Meinungsäußerung darstellen. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zur Veröffentlichung auszuwählen und zu kürzen. Leserbriefe sollten eine Länge von 2000 Zeichen (etwa 390 Wörter) nicht überschreiten. Kürzere Briefe haben größere Chancen, veröffentlicht zu werden. Bitte achten Sie auch darauf, dass sich Leserbriefe mit konkreten Inhalten der Zeitung auseinandersetzen sollten. Ein Hinweis auf den Anlass Ihres Briefes sollte am Anfang vermerkt sein (Schlagzeile und Erscheinungsdatum des betreffenden Artikels bzw. Interviews). Online finden Sie unter jedem Artikel einen Link »Leserbrief schreiben«.

Leserbrief zum Artikel Shoah: Für ein Pfund Zucker vom 23.04.2018:

Geschichtsrevisionismus

»Eine bahnbrechende Studie enthüllt, wie Polen die deutsche Judenvernichtung unterstützten«, untertitelt Reinhard Lauterbach seinen Artikel über eine polnische Buchveröffentlichung, die sich mit der Situation der Juden in einigen ländlichen polnischen Regionen während der Jahre 1942, 1943 und 1944 befasst. Ich habe im Internet eine ganze Reihe von Besprechungen dieses Buches »Dalej jest noc« gelesen und auf der Website der staatlichen Nachrichtenagentur PAP auch einen längeren Bericht über eine Diskussion mit den Autoren – eine solch weitgehende Schlussfolgerung wie die Lauterbachs habe ich nirgendwo entdeckt.
Entgegen dem von Lauterbach vermittelten Eindruck werden die Hilfsmaßnahmen des »christlichen« Polens für die bedrängten Juden von den Autoren auch nicht als »Einzelfälle« gesehen. Jan Grabowski verweist in der Diskussion im Museum der Geschichte der Polnischen Juden am 22. April auf die »Fluchtnetzwerke ins Ausland, insbesondere in die Slowakei und nach Ungarn«, hin. Als Fluchthilfeorganisation trat dabei die von der polnischen Exilregierung in London gesteuerte Gruppe »Zegota« auf. In Warschau gelang es »Zegota« unter der Leitung von Irena Sendler, ca. 2.500 jüdische Kinder aus dem Ghetto zu schmuggeln und in polnischen Einrichtungen und Familien unterzubringen. Auf das Verstecken von Juden stand für Polen – was Lauterbach leider verschweigt – nicht nur die Todesstrafe für die erwachsenen Beteiligten, sondern für die ganze Familie inklusive der Kinder. Und trotzdem stellen Polen bei den in Yad Vashem geehrten »Gerechten unter den Völkern« die größte Gruppe.
Von all dem weiß man in Deutschland allerdings so gut wie nichts. Deutsche Medien befassen sich lieber mit »polnischen Konzentrationslagern« und »der polnischen Mittäterschaft an NS-Verbrechen« (MDR). Rechte deutsche Geschichtsrevisionisten, die sich in der Geschichtsdarstellung um die Internationalisierung der Holocaust-Täterschaft bemühen, sehen sich bestärkt.
Richard Kallok

Kommentar jW:

Sehr geehrter Herr Kallok,

Vielen Dank für Ihren Brief. Der Untertitel zu dem Beitrag stammt genausowenig von mir wie der Titel. Ich hatte getitelt: »Vor uns die Nacht – Polen bekommt seinen Historikerstreit«. Bahnbrechende wissenschaftliche Studie beleuchtet das Verhalten von Polen gegenüber Juden, die den deutschen Vernichtungsaktionen entkommen waren. Es bleibt eine Tatsache, dass die Londoner Exilregierung sich zu der laufenden Judenvernichtung höchst ambivalent verhielt und es in ihren Kreisen eine Menge von Stellungnahmen in die Richtung gab, dass die deutschen »Maßnahmen«, wie auch immer barbarisch sie waren, Polen dem Ziel, eine »polnische« Bourgeoisie zu schaffen, näher brächten. Deshalb solle die Regierung auf keinen Fall zulassen, dass geflüchtete Juden nach Polen zurückkehrten. Denn das drohe unendliche Eigentumskonflikte hervorzurufen. Was die von Ihnen angegebene Zahl von »Gerechten unter den Völkern« angeht – stimmt, Polen stellen die größte nationale Gruppe dar. Ich halte das allerdings für die Ausnutzung eines statistischen Basiseffekts für moralische Zwecke: Es gab auch in Polen die meisten Gelegenheiten, Juden zu retten, weil dort die meisten von ihnen ermordet wurden.
Ich denke, diese Publikation wird langfristig in Polen eine ähnliche Funktion haben wie die Wehrmachtsausstellung in Deutschland.

Mit freundlichem Gruß

Reinhard Lauterbach

Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.04.2018.