Leserbrief zum Artikel Skripal-Affäre: Geplatzte Lügen
vom 06.04.2018:
Tradition der Doppelzüngigkeit
Theresa May steht an der Spitze eines Staates mit einer jahrhundertelangen Tradition von Doppelzüngigkeit und kolonialer Menschenverachtung. Ihre Politik steht aber außerhalb unserer Einflussmöglichkeit. Was mich deshalb viel mehr interessiert, ist, warum unsere Politik und unsere Medien sich in diese plumpe Kampagne - volles Rohr auf allen Kanälen - einbinden lassen. Die Schuldzuweisung wird – wie in anderen vergleichbaren Fällen (Flugzeug »MH 17«, Giftgas in Syrien), in denen es darum geht, Russland die Schurkenrolle zuzuweisen – mit der immer gleichen Plausibilitätsfloskel begründet. Doch die einfache Frage nach der Plausibilität wird in Wirklichkeit gar nicht gestellt geschweige denn beantwortet. Auch der neue Außenminister Heiko Maas bedient sich, kaum im Amt, dieses Textbausteins. Das erinnert an den Text auf einer satirischen Postkarte: »Meine Meinung steht fest, irritieren Sie mich nicht mit Tatsachen.« Betätigt sich der neue Außenminister hier als Verschwörungsdogmatiker? Es ist offensichtlich, dass es für die russische Administration keinen Sinn macht, unmittelbar vor der Präsidentenwahl und der Fußball-WM aus niedrigen Rachemotiven solch einen Skandal zu riskieren. Dagegen hat die liebe Frau May jeden Grund, ihre vom »Brexit« durchgeschüttelte, mit erkennbarem Verfallsdatum agierende Regierung durch Ablenkungsmanöver zu entlasten. Ihre miserablen Umfragewerte sind nach ihrem TV-Auftritt auch prompt in die Höhe geschossen. Dabei ist es gleich, ob sie wie seinerzeit G. W. Bush nach dem 11. September nur die Gelegenheit als Trittbrettfahrerin nutzt oder selbst an der Inszenierung mitgewirkt hat. Zuzutrauen ist das der westlichen Wertegemeinschaft allemal. Man erinnere sich an den Auftritt von Powell vor dem UN-Sicherheitsrat vor dem Einmarsch in den Irak. Der Journalistin Krone-Schmalz blieb es vorbehalten, bei Lanz in den Nachtstunden darauf hinzuweisen, dass das Gift – wenn überhaupt – zu Sowjetzeiten in Usbekistan produziert wurde und insofern heute vielen Kunden zugänglich wäre. Die USA und übrigens auch die Bundesrepublik hatten zwischenzeitlich Miltärstützpunkte in Usbekistan. Sie müssten also eigentlich wissen, wovon die Rede ist. Der Hinweis von Gabriele Krone-Schmalz hat natürlich den Weg in die Hauptnachrichten nicht gefunden. Die beschäftigen sich lieber mit den May-Auftritten und den Blanko-Solidaritätserklärungen von USA, Deutschland, Frankreich, EU, NATO und so weiter. Man ist geneigt, angesichts solch demonstrativer Einmütigkeit den Begriff Lügenpresse nicht dem braunen Sumpf und der AfD zu überlassen.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 09.04.2018.