Leserbrief zum Artikel CSSR 1968: Vormärz an der Moldau
vom 24.02.2018:
Gekaufter Frühling
Das Manifest »Zweitausend Worte, gerichtet an Arbeiter, Landwirte, Beamte, Künstler und alle anderen« vom Juni 1968 ist mir in Erinnerung geblieben. Der Verfasser Ludvic Vaculik ist mir ebenso bekannt wie andere tschechoslowakische Schriftsteller. Namentlich begegnete man vielen von ihnen später als Unterzeichnern der »Charta 77«. Nicht schlecht staunte ich allerdings, als der zuständige britische Geldkurier im britischen Guardian im Dezember 2004 mitteilte, dass diese tschechoslowakischen Dissidenten ein monatliches Salär von 600 US-Dollar aus dem Westen empfingen. Sollten Verfasser und Unterzeichner doch sehr käuflich gewesen sein? Mir ist auch kein Fall bekanntgeworden, dass tschechoslowakische Arbeiter und Landwirte jemals so großzügige Geldspenden einfach so aus dem Westen erhalten hätten. Auf jeden Fall gehört diese Tatsache über die Verfasser, die bis heute nicht angezweifelt wurde, auch zur ganzen Wahrheit und lässt doch sehr tief blicken. Der slowakische Kommunist Vasil Bilak, der in der Führung der KP bereits Ende des Jahres 1967 die Erneuerung in Partei und Gesellschaft mit eingeleitet hatte, fand bereits im Frühsommer 1968 seinen Namen an den Häuserwänden neben aufgemalten Galgen. Und das war kein Einzelfall, denn die Kommunisten, die die Umgestaltung selbst eingeleitet hatten, befanden sich nach der Veröffentlichung des »Manifestes« tatsächlich auf der Abschussliste. Die großzügigen Dollar-Spender im Westen wird das nicht gestört haben, und die Verfasser der »2.000 Worte« hatten nichts dagegen einzuwenden.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 16.03.2018.