Leserbrief zum Artikel »Wir haben es satt!«: Zehntausende für Agrarwende
vom 22.01.2018:
Wahnsinnsgeschäfte
Wenn der Generaldirektor der UN-Welternährungsorganisation, José Graziano da Silva, nicht einmal weiß, dass die Urwälder weltweit, vor allem in Amazonien und Südostasien, nicht wegen der Anlage von Wiesen abgebrannt werden, sondern für das Soja in deutschen Futtertrögen und für das Palmöl der Geschäftemacher im Energiesektor, wie soll da noch Hoffnung bestehen, dass die deutschen Agrarwendebefürworter jemals Unterstützung von ganz oben bekommen werden? Da unser nationaler Verantwortungsträger Christian Schmitt in gleichem Ausmaß von Unwissen gestraft zu sein scheint, wenn er behauptet, dass man »die Produktion (vermutlich von Fleisch und Milch) ausweiten müsse, um die Welt ernähren zu können«, liegt es tatsächlich nur an den hiesigen Bauern und Verbrauchern, die Agrarwende herbeizuführen. Denn Deutschland ist seit Beginn der Aufzeichnungen der Einfuhren und Ausfuhren an Agrarprodukten, also seit immer schon, ein Land mit negativer Agrarhandelsbilanz. Auch im Jahre 2016 wurden Agrarprodukte im Wert von 81 Milliarden Euro importiert und solche im Wert von 69,8 Milliarden exportiert. Schmitt meint also, mit einem deutschen Agraraußenhandelsdefizit von zwölf Milliarden Euro (2016, das sind 15 Prozent des Handels) den Hunger in der Welt bekämpfen zu können – welch ein Wahnwitz! Realität ist, dass Deutschland mit seiner gigantischen Tierhaltung tagtäglich mehrerer Handelsschiffsladungen an Futtermitteln insbesondere aus Argentinien und Brasilien bedarf, um den Chinesen die Schweinsohren und den Saudis Milch und Joghurt liefern zu können. Diese Hybris, die allen Bauern weltweit die Existenz rauben wird (industrielle Erzeugung wird nun mal nur als Kapital- bzw. Profitgeschäft betrieben) kann offenbar nur von den Bauern selbst gestoppt werden, indem sie die Spezialisierung und entsprechende Beratungen und Förderungen des Staates hinter sich lassen und auf Vielfalt setzen. Dann wird ein Schuh draus aus der Forderung nach einer Agrarwende!
Veröffentlicht in der jungen Welt am 02.02.2018.