Leserbrief zum Artikel Sozialpsychologie: Ins Fleisch gewachsene Masken
vom 22.12.2017:
Idealistische Sicht
»Die Menschen lassen sich ihre Partner bei Tinder per Algorithmus zuweisen.« Heißt: Sie lassen sich also doch von einem Gebrauchswert leiten (und nicht vom Tauschwert an sich). Auch die Benutzer von Smartphones befriedigen damit ein materielles Bedürfnis nach Kommunikation und folgen nicht nur einer Einbildung, die die Werbeindustrie in ihnen erzeugt. So richtig es ist, dass heute auch viel unnützes Zeug gekauft wird, nur weil es in der Werbung erscheint: Der Artikel von Götz Eisenberg in der jungen Welt vom 22. Dezember 2017 behandelt das Problem der Entfremdung letztlich idealistisch, weil er das Bewusstsein vor die Materie setzt. Auch die Arbeiter, die ihre Kinder nach der Logik der Gesellschaft erzogen haben, in der sie lebten, taten das nicht »aus Entfremdung«, sondern weil sie täglich erlebten, dass ein unpünktliches Erscheinen in der Fabrik den Arbeitsplatz und damit das Überleben kosten kann. Fraglos, der dargestellte Zusammenhang besteht, die Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse aber auf ihr »entfremdetes Bewusstsein« zu reduzieren, heißt: sich selbst als linker Intellektueller von der Klasse zu entfremden, indem man nur ihr Denken kritisiert, anstatt sich mit ihren materiellen Lebensbedingungen auseinanderzusetzen.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 29.12.2017.