Leserbrief zum Artikel Musikgeschichte: Beethoven liest
vom 13.12.2017:
Subversive Tradition
(…) Es stimmt nicht ganz, dass sich im Schlusschor von Beethovens 9. Sinfonie nichts mehr vom rebellischen Geist des ursprünglichen Gedichts »An die Freude« von Schiller findet. Dieser ist nach wie vor vorhanden, doch, verborgen im Text, für Kenner und Kennerinnen gleichwohl erkennbar. Denn die Freude ist Attribut der Venus (…), und diese Venus ist die Göttin des Lukrez und wird im ersten Gesang seiner »Natur der Dinge« als belebende Kraft allen Seins gefeiert (die einzige Gottheit, die Lukrez als wirkende Macht gelten lässt). Der Materialismus des Lukrez nun bildet (wie Stephen Greenblatt in einer überzeugenden Studie gezeigt hat) seit seiner Wiederentdeckung in der frühen Renaissance eine subversive Tradition in der europäischen Kunst und Literatur; subversiv, weil sie gegen jede Jenseitsorientierung die sinnliche Erfüllung in einem diesseitigen Dasein einklagt, damit die Entwicklung aller produktiven Fähigkeiten des Menschen fordert. (…) Der rebellische Geist also äußert sich beim späteren Schiller ideologisch und nicht politisch, das ist richtig, doch ist er gleichwohl vorhanden und wird so auch von Beethoven in der 9. Sinfonie musikalisch (…) in neue Dimensionen geführt. Dass das Bürgertum und seine ideologischen Handlanger dies nicht erkannten und die Neunte musikalisch wie ideologisch missbraucht wurde, nicht anders als es mit Schiller, Goethe und Shakespeare geschieht und geschah, steht auf einem ganz anderen Blatt und ist weiterer Untersuchungen wert. (…)
Veröffentlicht in der jungen Welt am 23.12.2017.