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Aus: Ausgabe vom 30.10.2013, Seite 3 / Schwerpunkt

Demokratie bei ver.di

Für den ehemaligen ver.di-Sekretär Anton Kobel ist die aktuelle Auseinandersetzung im Einzelhandel »die wichtigste Tarifrunde der letzten zehn Jahre«. »Wenn sich die Arbeitgeber durchsetzen, bedeutet das nicht nur die Absenkung der Gehälter und die Ausweitung des Niedriglohnsektors, auch die gewerkschaftliche Kraft im Einzelhandel würde deutlich geschwächt«, so der Gewerkschafter beim Ratschlag von Linksfraktion und Rosa-Luxemburg-Stiftung am Montag in Kassel. Ver.di habe den Angriff der Konzerne bislang »richtig gut gekontert«. Mehr als 125000 neue Mitglieder seien der Gewerkschaft in der Branche seit Februar beigetreten. »Und das wurde auch in Kampfkraft umgesetzt, wie die vielen Streiks und neuen Arbeitskampfformen zeigen.«

Dennoch macht sich Kobel Sorgen, und zwar um die demokratische Verfaßtheit seiner Organisation. »Es geht in dieser Tarifrunde auch um den Erhalt der innergewerkschaftlichen Demokratie.« Hintergrund ist eine Initiative der ver.di-Spitze, den Unternehmen bei den laufenden Tarifverhandlungen eine sogenannte Prozeßvereinbarung anzubieten. Demnach soll der von den Konzernen gekündigte Manteltarifvertrag zwar zunächst wieder in Kraft gesetzt, danach aber über dessen »Reform« verhandelt werden. Kritiker befürchten, daß die von den Unternehmen geforderten Verschlechterungen – wie die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe und die Streichung von Zuschlägen in der Warenverräumung oder die weitgehende Flexibilisierung der Arbeitszeiten – so durch die Hintertür doch noch umgesetzt werden könnten (siehe jW vom 26. September).

Empört sind sie vor allem darüber, daß die zuständigen ver.di-Gremien bei dem Vorstoß größtenteils übergangen wurden. »Einen solchen Kompromiß zu suchen, ohne die Streikenden, die aktiven Mitglieder und die Tarifkommissionen einzubeziehen, hat mit innergewerkschaftlicher Demokratie nichts mehr zu tun«, kritisierte Kobel. Der Düsseldorfer Kaufhof-Betriebsrat Helmut Born ergänzte: »Wir müssen höllisch aufpassen, daß es in dieser Sache keine Entscheidung ohne die Streikenden und die Ehrenamtlichen gibt.«

Niedersachsens ver.di-Landesfachbereichsleiter Heiner Schilling nannte es hingegen »statthaft, zu versuchen, am Verhandlungstisch nach vorne zu kommen«. Hierfür seien aber demokratische Diskussionen und Beschlüsse in den Tarifkommissionen notwendig. Jan Richter, Betriebsrat bei H&M in Berlin, stellte klar: »Ich streike dafür, daß der Manteltarifvertrag eins zu eins wieder in Kraft gesetzt wird – und nicht für irgendwelche Prozeßvereinbarungen, die uns ein paar Monate später den Boden wegziehen.« (dab)

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