29.04.2024 / Ansichten / Seite 8

Kerneuropa gespalten

Macron fordert Debatte über Atomwaffen

Jörg Kronauer

Geht die Debatte um nukleare Aufrüstung in der EU in die nächste Runde? Einiges deutet darauf hin. Erst erklärte Polens Präsident Andrzej Duda in der vergangenen Woche, sein Land sei bereit, US-Atomwaffen auf seinem Territorium zu stationieren. Am Freitag abend äußerte sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron, Frankreich biete an, mit der Force de frappe die atomare Abschreckung der EU zu übernehmen. Plädierte Duda implizit für einen Ausbau der militärischen Kooperation mit den USA, so ordnete Macron seinen Vorstoß in die Forderung aus seiner Rede am Donnerstag an der Sorbonne ein, es gelte den Aufbau einer »glaubwürdigen Verteidigung des europäischen Kontinents« zu forcieren – einer eigenständig operierenden, die unabhängig von den Vereinigten Staaten sei. Dazu brauche es, behauptete Macron, auch eine nukleare Komponente; denn mit Russland habe man es schließlich mit einer Atommacht zu tun.

Macrons Vorstoß hat mehrere Ebenen, und diese haben in der einen oder anderen Form alle mit der alten kerneuropäischen Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich zu tun. Eine davon: Berlin ist es gelungen, beim Aufbau eines europaweiten Flugabwehrsystems Paris komplett auszubooten. Von der kostspieligen European Sky Shield Initiative (ESSI), die Bundeskanzler Olaf Scholz im August 2022 initiierte, profitieren deutsche, israelische und US-Rüstungskonzerne, französische aber nicht. Paris, das bisher auch politisch nicht an der ESSI beteiligt ist, versucht seit einiger Zeit, sich noch im nachhinein einen Platz in ihr zu verschaffen. Macron erklärte am Freitag, zu einer wirklich umfassenden Flugabwehr müsse auch die Abwehr russischer Atomraketen gehören; ein Teil des Defensivprogramms aber müsse nukleare Abschreckung sein. Diese wiederum könne – als einzige Atommacht in der EU – nur Frankreich realisieren. Setzt Macron sich damit durch, dann erhielte Paris in der heute deutsch dominierten europäischen Flugabwehr eine starke Präsenz.

Es kommt hinzu, dass Berlin mit dem Umstand, dass es nicht über Kernwaffen verfügt, seit langem äußerst unzufrieden ist. In einer nuklearen Welt, so hört und liest man immer wieder, sei nur ein Staat, der Atombomben besitze, machtpolitisch wirklich souverän. Solange man keine habe, müsse man mit der transatlantischen nuklearen Teilhabe vorliebnehmen und sei, Stichwort Donald Trump, abhängig von den Launen der USA. Immer wieder hat die Bundesrepublik versucht, Frankreich eine Mitbestimmung über die Force de frappe oder wenigstens eine Mitfinanzierung abzuringen; man weiß ja: Wer zahlt, entscheidet. Paris lehnt den Schritt, mit dem Berlin zumindest indirekt zur Nuklearmacht aufstiege, seit je strikt ab. Gelänge es Frankreich nun, sich als die alleinige nukleare Garantiemacht der EU zu etablieren, wäre Berlin auf atomarem Feld nicht mehr nur Washington, sondern auch Paris nachgeordnet. Die Forderung nach einer deutschen Bombe ist seit Jahren immer wieder laut geworden. Sie könnte schon bald wieder zu hören sein.

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