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Aus: Ausbildung, Beilage der jW vom 03.09.2025
Lehrlingsbewegung

Ausbildung und Aufbegehren

Die Lehrlingsbewegung bildete sich zeitgleich zur Studentenrevolte der »68er«. Die Gründe für die Politisierung finden sich teilweise auch noch heute bei Azubis wieder
Von Gerhard Hanloser
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»Tragtierwesen«: Hufschmied im »Einsatzausbildungszentrum« einer Gebirgsjägerbrigade

Die Proteste gegen den Vietnamkrieg, gegen autoritäre Strukturen, Altnazis und Medienverdummung werden gerne der sogenannten Studentenbewegung zugeschrieben. Weniger bekannt, aber nicht minder bedeutend, war die Lehrlingsbewegung. Wie die Proteste der Studenten war die Rebellion der Lehrlinge Zeichen eines allgemeinen Aufstands der Jugend gegen die alte Welt. Die Bewegung der jungen Arbeiter in Westdeutschland ereignete sich etwa zwischen 1967 und 1974. Der rätesozialistische Aktivist Vadim Riga erklärte in einer rückblickenden Bilanz des Aufbruchs: »Niemand von denen wollte mehr werden, was ›die Alten‹ waren: krumm gemacht!«

Etwa zwei Drittel eines Jahrgangs machten seinerzeit eine Lehre – rund 1,5 Millionen Jugendliche. Die duale Ausbildung war für viele der Normalfall, während ein im Vergleich zu heute kleiner Teil der Jugend ein Studium aufnahm. Lehrlinge stellten also eine große gesellschaftliche Gruppe, deren Unzufriedenheit enorme Sprengkraft entfalten konnte. Und die Missstände waren gravierend: »Wir müssen hier raus, das ist die Hölle« der Band Ton Steine Scherben sprach vielen Lehrlingen aus dem Herzen.

Ausbeutung mit Tradition

In der sich modern dünkenden BRD der 60er Jahre galt noch die Gewerbeordnung aus dem Kaiserreich für die jungen Proletarier. Zwar wurde 1969 das Berufsbildungsgesetz (BBiG) eingeführt, das Mindeststandards für Ausbildung, Rechte und Pflichten von Auszubildenden sowie Kontrollmechanismen festlegte. Es wurde in der sozialen Wirklichkeit der Betriebe jedoch zu Lasten der Abhängigen umgesetzt. Lehrlinge verrichteten überwiegend Hilfsarbeiten, statt eine fachlich fundierte Ausbildung zu erhalten. Sie mussten Kaffee kochen, Werkstätten putzen oder Botengänge erledigen, ohne dass sie das Handwerk oder die Technik ausführten, die sie erlernen sollten. Überstunden, schlechte Bezahlung, fehlende Mitsprache und patriarchale Betriebskulturen verstärkten das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.

Vor diesem Hintergrund organisierten sich Lehrlinge – häufig inspiriert durch andere mit Leseerfahrung und mehr kulturellem Kapital – in Initiativen, Arbeitskreisen und schließlich in Lehrlingszentren. Dort diskutierten sie Erfahrungen, formulierten Forderungen und gingen auf die Straße. Auch Berufsschulen und Lehrlingsheime wurden von der Revolte erfasst. Die Lehrlingsbewegung orientierte sich Peter Birke vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen zufolge in zwei Richtungen: gegen verschärfte Ausbeutung statt Ausbildung und gegen die autoritäre Meisterlehre.

In ihren radikalen Ausläufern kamen die rebellischen Jungarbeiter dem recht nahe, was der Sozialphilosoph Herbert Marcuse die »große Weigerung« nannte. Zu den Maikundgebungen 1969 riefen vielerorts die Lehrlinge zu eigenen Blöcken innerhalb der Demonstrationen auf. Sie dehnten die Aktionen aus und hoben sie zugleich auf ein höheres politisches Niveau. Herausragend war in diesem Zusammenhang die Beteiligung der Lehrlinge an den Maikundgebungen in Hamburg, Westberlin und Köln, wo sie offen mit Parolen wie »Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft« gegen die Gewerkschaftsbürokratie in Erscheinung traten. Zu einer Großdemonstration unter dem Motto »Selbstbestimmung und Klassenkampf – statt Mitbestimmung und Gewerkschaftskrampf!« sollen damals etwa 10.000 Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet nach Köln gekommen sein.

Neue Verhältnisse, alte Probleme

Heute hat sich die Lage einerseits grundlegend verändert, andererseits sind die damaligen Probleme nicht allzu fern. Begannen 1968 zwei Drittel der Jugendlichen eine Lehre, sind es heute nur noch etwa 16 Prozent der 15- bis 25jährigen, die sich in einem sozialversicherungspflichtigen Ausbildungsverhältnis befinden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Doch gehören längere Schulzeiten, eine deutliche Ausweitung der Hochschulzugänge und eine zunehmende Akademisierung der Gesellschaft sicherlich dazu. Für viele Jugendliche ist das Studium zur attraktiveren Option geworden.

Gleichzeitig klagen Betriebe über einen wachsenden Fachkräftemangel. In manchen Branchen – etwa im Handwerk, in der Pflege oder im Gastgewerbe – bleiben jedes Jahr Zehntausende Ausbildungsplätze unbesetzt. Paradox erscheint, dass viele Jugendliche zwar eine Ausbildungsstelle suchen, aber keine passende finden, während Betriebe über mangelnde Bewerbungen berichten. Ursache sind häufig die Arbeitsbedingungen: schlechte Bezahlung, unattraktive Arbeitszeiten, geringe Zukunftsperspektiven.

Auch heute brechen viele Jugendliche ihre Ausbildung ab. 20 bis 30 Prozent sind es, je nach Branche. Unternehmerverbände klagen über eine angebliche »Work-Life-Balance«-Mentalität. Die Jugend sei zu verwöhnt, könne nicht mehr durchhalten und sich durchbeißen. Azubis berichten dagegen von Überstunden, zu wenig Betreuung, fehlender pädagogischer Qualität und Stress durch Personalmangel. Damit ähneln manche Klagen erstaunlich stark der Situation in den 1960er Jahre.

Für den Klassenkampf

Doch eine vergleichbare Massenbewegung existiert bislang nicht. Die Gründe dafür sind augenfällig: Die Zahl der Azubis ist kleiner, Bildungswege sind vielfältiger, und viele Jugendliche verlassen unzufrieden lieber den Betrieb, statt kollektiv für Veränderungen zu kämpfen. Dennoch gibt es Protestformen, die, weniger spontan, von Gewerkschaften ausgehen. Mobilisieren diese nichts, kommt wenig in Gang. Verdi und IG Metall haben in den vergangenen Jahren wiederholt Azubis zu Warnstreiks und Jugendstreiktagen mobilisiert. Gefordert wurden höhere Vergütungen, unbefristete Übernahmen und bessere Ausbildungsbedingungen. An diesen Aktionen beteiligten sich teils mehrere tausend Azubis.

Die heutige digitale Öffentlichkeit ist für Proteste Fluch und Segen zugleich. Anders als 1968 können Azubis Missstände direkt über Social Media sichtbar machen. Klagen über Überstunden, schlechte Betreuung oder mickrige Vergütung verbreiten sich schnell und erreichen ein breites Publikum. Allerdings spielt sich dieser Protest weitgehend im Netz ab, und es kommt kaum zu tatsächlichen Protesten, Versammlungen und Revolten im realen Raum. Zugleich existieren stärker branchenbezogene Proteste. Besonders im Gesundheitswesen, in der Pflege und im Einzelhandel kam es zu Demonstrationen von Azubis, die bessere Bedingungen forderten.

Heute existiert also durchaus eine Protestkultur, wenn auch fragmentierter und digitaler. Für eine gesamtgesellschaftliche Wucht wie 1968 bräuchte sie wohl eine Horizonterweiterung. Die radikalen Lehrlinge der 60er waren vom Vietcong und den Black Panthers angefixt und konnten die entfremdete Arbeit dadurch begreifen und ablehnen. Wie könnte eine proletarische Jugendbewegung heute aussehen? Der Soziologe Birke begreift es als wesentlich, Klimakämpfe auch als Klassenkämpfe zu begreifen. In den vergangenen Jahren waren viele Jugendliche dazu in Massen auf der Straße. Es würde sich »ein anderer Name als Lehrlingsbewegung finden müssen«, so Birke. Doch seien der Zugang zu Bildung, die Abwehr von Prekarität auch heute noch zentrale Themen der Jugend.

Gerhard Hanloser ist regelmäßiger jW-Autor und brachte 2017 »Lektüre und Revolte. Der Textfundus der 68er-Fundamentaloppositon« im Unrast-Verlag Münster heraus

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