25.04.2024 / Schwerpunkt / Seite 3

»Nach dem Krieg kommen die Kinder«

Die Ukraine sorgt sich um ihre demographische Entwicklung

Reinhard Lauterbach

Wolodimir Selenskij war sich sicher: Nach dem Ende des Krieges werde es in der Ukraine einen »Geburtenboom« geben. Dann würden die Frauen ihre wegen des Krieges aufgeschobenen Kinderwünsche nachholen, gab sich der ukrainische Präsident Ende März bei einem Auftritt an der Universität Sumi zuversichtlich. Vorher müssten jedoch genug Flugabwehrsysteme geliefert werden, fiel der Staatschef allerdings bald wieder in seine routinemäßigen Beschwörungen ein.

Was er nicht verriet, war, wo die Eltern dieser Kinder herkommen sollen. Nach UN-Schätzungen haben seit Kriegsbeginn zehn bis zwölf Millionen Menschen die Ukraine verlassen, davon übrigens etwa die Hälfte in Richtung Russland. Allein für die EU zählen die Statistiker 6,7 Millionen ukrainische Staatsbürger – vor allem Staatsbürgerinnen. Die Bevölkerungszahl, die beim Eintritt der Ukraine in die Unabhängigkeit bei 51 Millionen gelegen hatte, war bereits bis 2021 auf knapp 40 Millionen zurückgegangen. Dabei hatten sich die widrigen Lebensbedingungen der Transformationsjahre ebenso ausgewirkt wie die Modernisierung der Lebensentwürfe junger Frauen. 2021, im letzten vollen Jahr vor dem Krieg, lag die sogenannte Reproduktionsrate der Frauen in der Ukraine bei 1,16 Kindern – wenig mehr als der Hälfte der 2,1 Kinder pro Frau, die als statistische Faustregel dafür gilt, dass eine Gesellschaft ihren Bestand erhalten kann. Schon vor dem Krieg hatte die Ukraine damit nach Hongkong und Südkorea die drittniedrigste Geburtenrate der Welt. EU-Statistiker sprechen aktuell von 29,5 Millionen Einwohnern in der Ukrai­ne, und sie schließen einen weiteren Rückgang auf 26 Millionen nicht aus.

Jetzt sind die potentiellen Eltern erst einmal weg. Nach Erhebungen etwa der Bundesanstalt für Arbeit will knapp die Hälfte der nach Deutschland Geflohenen aus der Ukraine langfristig – oder zumindest für mehrere Jahre nach Kriegsende – in Deutschland bleiben. Mit anderen Worten: Sie wollen erst einmal abwarten, was in der Ukraine passiert, oder sie haben das Land als Lebensperspektive ohnehin abgeschrieben. Das bedeutet, dass diese Frauen als künftige Mütter in der Ukraine ausfallen, zumal ja auch bei ihnen die Bereitschaft und Fähigkeit, Kinder zu bekommen, mit den Jahren abnimmt. Im übrigen sind da ja auch noch die potentiellen Väter, die fehlen. Zwar veröffentlicht die Ukraine keine Angaben über die Zahl der Männer, die an der Front gefallen sind, aber westliche Geheimdienste nennen Größenordnungen von etwa einer halben Million. Hinzu kommen die irreparabel Verletzten. Der Ukraine droht wegen dieser sich überlagernden statistischen Effekte eine demographische Lücke in Millionenhöhe.

Aber träumen darf man ja trotzdem. Das ukrainische Sozialministerium veröffentlichte in dieser Woche eine »Strategie der demographischen Entwicklung der Ukraine bis 2040«. Die schwelgte in Schilderungen, wie das Land nach Kriegsende für junge Leute attraktiv und zum Hoffnungsträger werden könnte. Finanzielle Unterstützung für junge Familien sei nötig – woher aber das Geld kommen soll, alles also, was eine Strategie ausmachen würde, steht in dem Dokument nicht. Denn allzu teuer darf die »demographische Entwicklung der Ukraine« ja auch nicht werden. Ebensowenig wird gesagt, wo diese jungen Paare, wenn sie sich denn schon a) finden und b) zur Familiengründung in die Ukraine zurückkehren sollten, wohnen und arbeiten könnten. Papier ist eben geduldig. Geduldiger als potentiell die ins Visier genommenen Ukrainerinnen und Ukrainer.

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