22.04.2024 / Ansichten / Seite 8

Auf dem Zahnfleisch

US-Militärhilfe für Kiew

Reinhard Lauterbach

Auf den ersten Blick sind 61 Milliarden US-Dollar ein Haufen Geld. Es ist anderthalbmal soviel, wie die USA in den vergangenen gut zwei Jahren zur militärischen Unterstützung der Ukraine aufgewendet haben: 44 Milliarden. Insofern ist es konsequent, dass von den 61 Milliarden 23 Milliarden faktisch zur Refinanzierung der bereits gelaufenen Rüstungshilfe verwendet werden sollen: nämlich dazu, die eigenen Arsenale der USA wieder aufzufüllen. Weitere elf Milliarden sollen die »Finanzierung von amerikanischen Sicherheitsoperationen in Europa« weiter sicherstellen; zusammengerechnet geht damit mehr als die Hälfte des »Ukraine-Pakets« nicht an Kiew, sondern in die eigene Tasche der USA.

Zusätzlich fließen 14 Milliarden Dollar, mit denen die US-Regierung weitere Waffen für die Ukraine bei der heimischen Rüstungsindustrie bestellen will: ein knappes Viertel des Gesamtpakets. Nicht zufällig hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor ein paar Tagen die Mitgliedstaaten der Allianz aufgefordert, darauf zu achten, dass sie bei aller Unterstützung der Ukraine nicht ihre eigenen Waffenarsenale so weit ausplündern, dass die Bestände unter das Niveau fallen, das die NATO für ihre eigene Kriegsfähigkeit für erforderlich hält. Vieles, was nach außen groß angekündigt wurde, sieht nach ein paar Monaten wesentlich kleiner aus: etwa die tschechische Initiative, weltweit eine Million Artilleriegranaten für die Ukraine zusammenzukaufen. Bisher sind davon erst 300.000 vertraglich gesichert. Das bedeutet im Klartext, dass die im Krieg zwischen Russland und der Ukraine offiziell gar nicht beteiligte NATO inzwischen faktisch auf dem Zahnfleisch geht.

Aber das darf sowenig herauskommen wie die Nacktheit des Kaisers in Andersens Märchen. Die NATO lebt insbesondere vom Nimbus ihrer angeblichen Unbesiegbarkeit. Der britische Expremier Boris Johnson hat die USA in einem Video für die Zeitung Daily Mail vor der Abstimmung in Washington geradezu beschworen, Kiew »mehr und schneller« zu unterstützen; auf dem Spiel stehe nicht mehr und nicht weniger als »die globale westliche Hegemonie«. Das sagt derjenige, der vor zwei Jahren maßgeblich daran beteiligt war, die russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen zu torpedieren und die Ukraine in einen Stellvertreterkrieg zu drängen, den sie, wie sich inzwischen gezeigt hat, nicht gewinnen kann.

Kurzfristig wird die Ankündigung der zusätzlichen US-Militärhilfe den Krieg in der Ukraine intensivieren, denn sie schafft für Russland einen Anreiz, weitere militärische Tatsachen zu schaffen, bevor die angekündigte Hilfe materiell in der Ukraine ankommt. Wenn das Paket, wie Wolodimir Selenskij gesagt hat, »die Geschichte auf dem richtigen Weg hält«, dann zeigt das in erster Linie, worin dieser Weg des Westens besteht: die eigene Vorherrschaft mit aller Gewalt zu verteidigen.

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