16.04.2024 / Feuilleton / Seite 11

So geht Erinnerungspolitik

Puppentheater von Nikolaus Habjan auf großer Bühne in Berlin

Gert Hecht

Puppentheater auf einer großen Bühne, wo gibt’s das denn? Lange wurde die Kunst des Puppenspiels als kindliches Vergnügen ohne höheren Anspruch abgetan. In der DDR wusste man es besser und institutionalisierte das Puppenspiel als eigene Kunstform, die Reste sieht man bis heute in den Osttheatern. Auch international hat sich die Szene entwickelt. Das Deutsche Theater Berlin hat nun bekannte Puppenspieler wie Nikolaus Habjan und Neville Tranter auf den Spielplan gesetzt.

In »F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig« erzählt Habjan die Lebensgeschichte von Friedrich Zawrel. 1929 geboren, landet Zawrel als Kind in den Fängen der Nazis und ihrer Kumpane in Österreich. Weil er aus einer durch Armut und Alkohol zerrütteten Familie kommt, wird Zawrel in dem berüchtigten »Spiegelgrund« nahe Wien von einem Anstaltsarzt als »erbbiologisch und sozial minderwertig« klassifiziert. Eine couragierte Anstaltsschwester rettet ihn vor dem Tod, in der »Euthanasieanstalt« werden zahlreiche Kinder ermordet.

Die Puppe, die Zawrel als Kind verkörpert, strahlt in ihrem Gesicht eine fragende Offenheit und Naivität aus, die weder die Grausamkeiten gegen die im Nazijargon »Gesindel« genannten Juden noch die ihm selbst angetanen Demütigungen und Misshandlungen begreifen kann. Man kann nicht anders als mitfühlen – wobei man vergisst, dass man es mit einer Puppe zu tun hat. Das unbelebte Objekt wird mit Leben erfüllt, das ist der Zauber des Puppentheaters. Und Habjan ist ein Meister seines Fachs. Er lässt einen glauben, dass seine Puppen ein Eigenleben haben.

Als eine weitere Puppe hat Habjan den alten Zawrel dabei, der rück­blickend sein Leben erzählt. Nach 1945 kann er sich keine bürgerliche Existenz aufbauen, weil er als vorbestraft gilt. Er schlägt sich mit kleinen Dieb­stählen durch, wird verhaftet und landet zur psychiatrischen Begutachtung bei Dr. Gross, eben jenem Arzt aus dem »Spiegelgrund«. Der ist inzwischen als Sozialdemokrat zum gefragtesten Gerichtsgutachter Österreichs aufgestiegen. Er stuft Zawrel wieder als »erbbiologisch und sozial minderwertig« ein und empfiehlt dem Richter nach der Haft eine Sicherheitsverwahrung.

Im charmanten Wienerisch schildert Zawrel seinen mühsamen Kampf um Anerkennung. Erst im Jahr 2000 kommt es zu einem Gerichtsprozess gegen Gross, dem sich der Arzt mit einem Gutachten für Demenz entzieht. Zawrel erzählt seine Geschichte vor zahlreichen Schulklassen, im Jahr 2015 stirbt er. Habjans Stück feiert 2012 Premiere, es basiert auf zahlreichen Gesprächen mit Zawrel. Seitdem wurde es über 600mal gespielt. Es ist kaum zu glauben, wie Zawrel in der Puppe »weiterlebt«. So geht Erinnerungspolitik nach dem Sterben der Zeitzeugen und Überlebenden.

Neben »F. Zawrel« kann man Habjan am Deutschen Theater Berlin auch zusammen mit Neville Tranter erleben, einem Star der Puppenspielszene. Die Österreich-Groteske »The Hills Are Alive« ist ein furioser Spaß mit ernstem Hintergrund. Ein altes Ehepaar, das vor den Nazis aus Österreich geflohen ist, will sich wieder einbürgern lassen. Dabei trifft es auf einen irren Einreisebeamten, der sich als biologischer und geistiger Nachkomme der Nazis von damals erweist. Wie bei »F. Zawrel« geht es auch in »The Hills Are Alive« um das Nachleben des Faschismus in der Demokratie.

Im Juni ist mit »Böhm« ein weiteres Stück von Habjan am Deutschen Theater Berlin zu sehen, in dem es um den berühmten Dirigenten Karl Böhm geht, der unter den Nazis und nach 1945 Karriere machte. Will man sehen, was sich künstlerisch und politisch aus dem Puppenspiel herausholen lässt, kommt man an Nikolaus Habjan und seinen phantastischen Klappmaulpuppen nicht vorbei.

Nächste Termine »The Hills Are Alive«: 16. und 17. April am Deutschen Theater Berlin

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