13.04.2024 / Ausland / Seite 7

Von Algier wie von New York träumen

Abschiebungen nigrischer Migranten aus Algerien sorgen für Spannungen

Sabine Kebir

Am 3. April wurde der algerische Botschafter Mehdi Benkhedda in Nigers Hauptstadt Niamey ins Außenministerium einbestellt. Er musste sich Protest gegen polizeiliche Massenabschiebungen nigrischer Bürger aus der südalgerischen Metropole Tamanrasset stellen, die »gewaltsam« und unter »Missachtung ihrer Eigentumsrechte« vonstatten gegangen seien. Die Migranten seien mit Lastwagen hinter die Grenze gebracht und im Wüstensand ausgesetzt worden.

Anders als in Europa oft dargestellt, ist die Freizügigkeit von Lohnarbeitern in Afrika kein ursprüngliches Gewohnheitsrecht. Massenmigration ist erst aus neokolonialer Unterdrückung und neoliberalen Reformen hervorgegangen. Die dadurch entstandene Verarmung schafft zunehmend Probleme. In Algerien gehören Migranten aus dem saharischen und subsaharischen Afrika erst seit etwa zwei Jahrzehnten ins Alltagsbild. Junge, kräftige Männer, die vielleicht für eine illegale Überfahrt nach Europa sparen, arbeiten überall im Land auf dem Bau, als Putzkräfte oder in Großprojekten der südlichen Landwirtschaftsoasen. In den Städten begegnet man tagsüber meist aus Niger stammenden Frauen und Kindern, die um Almosen bitten. Am Straßenrand sitzen manchmal auch ganze Familien. Der Vater rezitiert laut den Koran, Frau und Kinder halten die Hände auf oder rennen sogar unter Lebensgefahr zu den Autos. Nachts kehren die Migranten in staatlich errichtete Lager zurück.

Viele Algerier versagen den Nigrern die Almosen nicht. Doch während den Migranten, die eine Arbeit gefunden haben, zumindest teilweise auch Arbeitsrechte samt Aufenthaltsberechtigung zugesprochen wurden, werden Nichtarbeitende periodisch nach Niger abgeschoben. Doch viele kehren wieder nach Algerien zurück. In ihrer Heimat herrscht trotz erheblichen Reichtums an Bodenschätzen große Armut. Eine in Niamey lebende Bekannte sagte jW, dass man dort von Algier träume, wie Europäer von New York träumten.

Migrationskonflikte zwischen beiden Ländern sind nicht neu. Sie erfahren gegenwärtig eine Verschärfung, weil die aus dem Putsch von 2023 hervorgegangene Militärregierung in Niger ein von 2015 stammendes Gesetz annulliert hat, das allein schon den Transport von Migranten ohne gültige Papiere verbot. Die nun bestehende Straffreiheit für sogenannte Schlepper hat die Zahl der Migranten in die Höhe getrieben – ebenso die Zahl der Abschiebungen. 2023 waren 23.000 Nigrer betroffen. Die migrationspolitischen Positionen und Maßnahmen der neuen nigrischen Regierung sollen den sozialen Druck im eigenen Land mildern. Wie ein Regierungssprecher sagte, richten sie sich explizit gegen die Verschärfung des Flüchtlingsrechts der EU, faktisch aber auch gegen das der Afrikanischen Union (AU).

Als Tunesien 2023 eine umfangreiche Abschiebung von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, die aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara kamen, in die Wege leitete und von Menschenrechtsorganisationen beschuldigt wurde, Betroffene in der libyschen Wüste ausgesetzt zu haben, äußerten Sprecher der AU Verständnis für Tunesiens Entscheidung und riefen die Herkunftsländer auf, den Rückkehrern einen menschenwürdigen Empfang zu bereiten. Ein diesbezügliches Abkommen hatte auch zwischen Algerien und Niger bestanden, das mit dem neuen Gesetz aus Niamey aber wohl hinfällig wurde.

Spannungen gibt es zwischen den beiden Ländern auch aus anderen Gründen. Eine Initiative des algerischen Außenministers Ahmed Attaf in mehreren Staaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), die 2023 eine Militäroperation gegen die Putschisten in Niger erwogen, traf in Niamey nicht auf einhellige Resonanz. Ähnlich wie in Mali, hat auch die neue nigrische Führung in ihrem Streben nach maximaler Unabhängigkeit Vorbehalte gegen die traditionell starke politische Rolle, die Algerien auch kraft seiner gefestigten ökonomischen Macht in der afrikanischen Diplomatie spielt. Von westlichen, insbesondere europäischen Ländern, deren Einfluss im Sahel erheblich zurückgedrängt wird, werden solche Spannungen überbewertet.

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