10.04.2024 / Ausland / Seite 6

Berlin heuchelt Unschuld

Den Haag: Zweitgrößter Waffenlieferant Israels weist Vorwürfe Nicaraguas zurück. Ministerpräsident Netanjahu will in Rafah einmarschieren

Wiebke Diehl

Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag hat die deutsche Seite am Dienstag wie erwartet den von Nicaragua erhobenen Vorwurf der Begünstigung eines »Völkermords« im Gazastreifen zurückgewiesen. Deutschland liefere Waffen nur »auf der Grundlage einer sorgfältigen Prüfung«, die »weit über die Anforderungen des Völkerrechts« hinausgehe, behauptete die Leiterin der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts, Völkerrechtsberaterin Tania von Uslar-Gleichen, in der entsprechenden Anhörung. Am Montag hatte das Juristenteam Nicaraguas ausführlich seine Argumente dargelegt und die Verhängung von Sofortmaßnahmen gefordert, insbesondere einen unmittelbaren Stopp deutscher Waffenlieferungen an Israel. Auch will das lateinamerikanische Land eine Wiederaufnahme deutscher Zahlungen an das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) bewirken.

Die deutsche Seite stellte in Frage, ob ein Verfahren zwischen zwei am Krieg nicht direkt beteiligten Parteien plausibel sei. Sowohl Deutschland als auch Nicaragua haben allerdings die UN-Völkermordkonvention verabschiedet und sind damit nicht nur verpflichtet, keinen Genozid zu begehen, sondern auch, einen solchen zu verhindern. Deutschland ist nach den USA, die das Abkommen nur unter Vorbehalt ratifiziert haben, Israels zweitgrößter Waffenlieferant. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums auf Anfrage der außenpolitischen Sprecherin der BSW-Gruppe im Bundestag, Sevim Dagdelen, hat Deutschland im Jahr 2023 zehnmal so viele Rüstungsgüter an Tel Aviv übergeben wie im Vorjahr, darunter Kriegswaffen im Wert von 20 Millionen Euro. Damit war Deutschland für 47 Prozent aller Waffenlieferungen an Israel verantwortlich, die USA für 53 Prozent. Die allermeisten Genehmigungen wurden nach Beginn des Kriegs im Gazastreifen erteilt. Erst am Freitag forderte auch der UN-Menschenrechtsrat einen Stopp von Rüstungsexporten an Israel – sowohl Deutschland als auch die USA hatten sich gegen die Resolution ausgesprochen. In dem Verfahren in Den Haag sind keine weiteren Anhörungen vorgesehen. Die 16 Richter werden nun beraten und in etwa zwei Wochen ein Urteil fällen.

Derweil haben internationale Vermittler nach Angaben aus ägyptischen Regierungskreisen der Hamas und Israel am Wochenende einen neuen, dreistufigen Vorschlag für eine Waffenruhe vorgelegt. Demnach sollen zunächst in einer sechswöchigen Gefechtspause 42 israelische Geiseln gegen bis zu 900 in israelischen Gefängnissen inhaftierte Palästinenser ausgetauscht werden. Zudem soll in der ersten Phase eine große Anzahl Binnenvertriebener in den Norden des Gazastreifens zurückkehren, in dem Wohnhäuser allerdings größtenteils zerstört sind. Auch solle die Zahl humanitärer Hilfslieferungen auf 400 bis 500 Lastwagen am Tag erhöht werden. In einem zweiten Schritt ist geplant, dass alle restlichen Geiseln in der Hand der Hamas und anderer Gruppen sowie weitere palästinensische Häftlinge freikommen, damit dann in der letzten Phase ein dauerhafter Waffenstillstand in Kraft treten und ein vollständiger israelischer Abzug aus dem Gazastreifen vollzogen werden könne.

Die Hamas erklärte am Dienstag, den Vorschlag zu prüfen, allerdings sei die israelische Seite in den Gesprächen auf keine für sie wesentliche Forderung wie der nach einem Waffenstillstand eingegangen. Erst am Montag hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verkündet, allen internationalen Warnungen zum Trotz an der geplanten Offensive auf die Grenzstadt Rafah festzuhalten, in der sich derzeit etwa 1,3 Millionen Menschen, die meisten von ihnen Binnenflüchtlinge, aufhalten. Ein – nicht genannter – Termin stehe bereits fest.

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