09.04.2024 / Ausland / Seite 1

BRD auf der Anklagebank

Nicaragua bringt Deutschland wegen Verdachts auf Beihilfe zum Völkermord in Gaza vor Internationalen Gerichtshof. Bundesregierung wiegelt ab

Wiebke Diehl

Es sei »eine wirklich erbärmliche Ausrede für die palästinensischen Kinder, Frauen und Männer, einerseits humanitäre Hilfe zu leisten (…) und andererseits die militärische Ausrüstung zu liefern (…), um sie zu töten und zu vernichten«. Dies sagte der deutsche Anwalt Daniel Müller, einer der Vertreter Nicaraguas, am Montag vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag zum Auftakt eines von dem lateinamerikanischen Land angestrengten Prozesses, in dem es um die Rolle Deutschlands im Gazakrieg geht.

In einem am 1. März eingereichten, 43seitigen Antrag wirft Nicaragua Deutschland vor, durch seine politische, finanzielle und insbesondere militärische Unterstützung Israels sowie mit dem andauernden Zahlungsstopp an das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) Beihilfe zu einem »Genozid« in Gaza zu leisten. Deutschland ist nach den USA, die die Völkermordkonvention nur unter Vorbehalt ratifiziert haben, der größte Waffenlieferant Israels. Unterzeichnerstaaten verpflichten sich nicht nur, Völkermord nicht zu begehen, sondern auch, entsprechende Taten zu verhindern.

Bis zu einer endgültigen Entscheidung des Gerichts im Hauptsacheverfahren fordert Nicaragua die Verhängung von Sofortmaßnahmen, darunter einen unmittelbaren Stopp von Waffenlieferungen. Ein diesbezügliches Urteil, das völkerrechtlich bindend ist, wird in etwa zwei Wochen erwartet. Nachdem am Montag die Juristen des zentralamerikanischen Landes ausführlich ihre Argumente dargelegt haben, werden an diesem Dienstag vormittag die Vertreter Deutschlands die Anschuldigungen »Vorwurf für Vorwurf im Detail widerlegen«, wie das Auswärtige Amt am Montag auf X behauptete. In einem bereits seit Januar vor dem IGH laufenden, von Südafrika angestrengten Völkermordverfahren gegen Israel hat die Bundesregierung sich nicht nur klar an die Seite Tel Avivs gestellt, sondern auch angekündigt, in der Hauptverhandlung als Drittpartei zu intervenieren.

In Den Haag waren am Montag auch parlamentarische Anfragen der außenpolitischen Sprecherin der BSW-Gruppe im Bundestag, Sevim Dagdelen, die als einzige parlamentarische Beobachterin an der IGH-Anhörung teilnahm, zu deutschen Waffenlieferungen an Israel Thema. Auf jW-Anfrage erklärte sie: »Angesichts der humanitären Katastrophe in Gaza muss die Bundesregierung die Waffenlieferungen an Israel umgehend und unabhängig vom IGH-Verfahren stoppen. Die Völkermordkonvention und das humanitäre Völkerrecht müssen in jedem Falle stärker gewichtet werden als eine Selbstverteidigung, die sich über internationales Recht stellt: Die Bundesregierung droht Deutschland mit ihrer bedingungslosen militärischen Unterstützung Israels international zu isolieren.«

Parallel zur Anhörung in Den Haag veröffentlichten am Montag 600 Bundesbeamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes einen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz und fünf Bundesminister: Weil sie den Fundamentalprinzipien des Grundgesetzes und dem Völkerrecht verpflichtet seien, hätten sie die Pflicht, die Bundesregierung zu kritisieren, die »politisch, wirtschaftlich und militärisch die völkerrechtswidrige Politik Israels in Gaza und den weiteren völkerrechtswidrig besetzten palästinensischen Gebieten« unterstütze. Aus Sorge vor Repressalien wurden die Namen der Unterzeichnenden nicht offengelegt. Bereits Anfang Februar hatten 800 Beamte aus den USA und der EU eine ähnliche »transatlantische Erklärung« verfasst.

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