17.04.2024 / Ausland / Seite 6 (Beilage)

Iberische Übergänge

Widersprüche des revolutionären Prozesses: Größe und Niederlage der portugiesischen Nelkenrevolution

Raquel Varela, Lissabon

Der lange Prozess, der in die Nelkenrevolution mündete, begann 1961 in Afrika, als in Angola, Guinea-Bissau und Mosambik die antikolonialen Revolutionen begannen. Die Nelkenrevolution, die 1974/75 das zentrale Thema der US-amerikanischen und europäischen Diplomatie war, hatte ihrerseits Auswirkungen auf Frankreich und Italien, auf das Ende der Diktaturen in Griechenland und Spanien. Die portugiesische Revolution war eine soziale Explosion, die nach Ansicht von US-Präsident Gerald Ford das Potential hatte, den gesamten Mittelmeerraum in ein »rotes Meer« zu verwandeln und die südeuropäischen Regime wie Dominosteine zu Fall zu bringen.

Und doch war diese Zeit voller Widersprüche: Mitten in der Revolution unternahm etwa die weiße Elite Mosambiks unter der Führung von Jorge Jardim den (erfolglosen) Versuch, die Apartheid in Mosambik einzuführen. Die antikolonialen Revolutionen und die portugiesische Revolution hatten schließlich, umgekehrt, einen starken Einfluss auf den Kampf gegen die Apartheid.

Neoliberale Pläne verzögert

Als Teil der weltweiten Welle der Mobilisierung nach 1968 löste die Nelkenrevolution eine Welle des politischen Widerstands in Südeuropa aus, die die Umsetzung der bereits konzipierten neoliberalen Pläne verzögerte. Erst ab etwa 1980 gelang es der europäischen Bourgeoisie, die keine revolutionäre Welle mehr befürchtete, die Pläne zu einer weitreichenden ökonomisch-sozialen Umstrukturierung umzusetzen.

Die Revolution in Portugal wurde durch eine politisch innovative Kombination beendet. Mário Soares führte an der Spitze einer Koalition, zu der die Rechte, die Kirche und die prokapitalistischen Sektoren der Bewegung der Streitkräfte (MFA) gehörten, mit Unterstützung der USA und der deutschen Sozialdemokratie die Konterrevolution des Novembers 1975 an – einen Staatsstreich fast ohne Opfer und mit weitreichenden sozialen Zugeständnissen. Die Grundidee war, die Revolution mit minimalem Zwang, aber vor allem im Konsens, zu beenden.

In meiner Doktorarbeit über die Rolle des Partido Comunista Português (PCP) zwischen dem 25. April 1974 und dem 25. November 1975 vertrat ich die Auffassung, dass der PCP die Konsolidierung eines demokratischen Regimes in Portugal anstrebte, das im Rahmen eines »regulierten Kapitalismus« unter dem Dach der NATO eine relative Unabhängigkeit von den großen Mächten anstrebte.

Strategie des PCP

Zur Umsetzung dieser Strategie definierte die Portugiesische Kommunistische Partei ihre zentrale Linie wie folgt: 1) eine breite demokratische Einheit mit Sektoren der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums, was den Kampf gegen die konservativere Rechte, aber auch den Versuch, die extreme Linke zu isolieren, einschloss; 2) die Einheit der Arbeiterbewegung mit der Bewegung der Streitkräfte, die »Volks-MFA-Allianz«; 3) den Aufbau eines einzigen, von ihr selbst geleiteten Gewerkschaftszentrums, CGTP-IN, das als Organisationsstruktur der portugiesischen Arbeiterbewegung und als strategische Reserve für die Rekrutierung von Kadern, Kämpfern und finanziellen Ressourcen für den PCP dienen sollte; 4) Kontrolle der Verstaatlichungen und der Agrarreform durch die Gewerkschaftsstrukturen in Zusammenarbeit mit dem Staat (in Abgrenzung von der Kontrolle durch die Beschäftigten); 5) eine Politik des Widerstands gegen alle Produktionshindernisse, sei es in Form von Wirtschaftssabotage oder Streiks; 6) Beitrag zur Entspannungspolitik zwischen den USA und der UdSSR und Mitarbeit an der Unabhängigkeit der Kolonien unter der Leitung der dortigen Arbeiterbewegungen; 7) Verhinderung der Bildung von Organen der »Doppelherrschaft« – der Volksherrschaft, wie Arbeiter- und Einwohnerkomitees – innerhalb der Arbeiter- und Volksbewegung und der Streitkräfte und Verhinderung ihrer nationalen Koordinierung in einer der Rätebewegung ähnlichen Form.

Man kann drei Hauptperioden in der Politik des PCP während der Revolution systematisieren. Eine erste Periode, bis März/April 1975, in der das Bündnis mit dem MFA, dem Partido Socialista (PS) und dem Partido Popular Democrático (PPD) herrschte – ein Bündnis, das möglich war, solange die Revolution im Rahmen der demokratischen Forderungen blieb und die Stabilität des Staates gesichert blieb. Eine zweite Phase zwischen dem 11. März 1975 und dem Sturz der fünften Regierung unter Vasco Gonçalves Ende August 1975, in der aufgrund des Vormarschs der Kämpfe im Arbeiter- und Volkssektor und der Entstehung von (nicht landesweit organisierten, aber weitverbreiteten) Organisationen der Doppelherrschaft das Bündnis mit dem PS zerbrach und infolgedessen auch die Einheit des MFA selbst zu schwinden begann. Diese Periode war von dem Versuch gekennzeichnet, die Entscheidung des PS, aus der Regierung auszutreten, rückgängig zu machen, die gegen den politischen Willen des PCP getroffen worden war. Dies war eine kritische Phase, in der der PCP seine Politik dadurch gefährdet sah, dass Sektoren links von ihm, denen die kommunistische Führung nicht vertraute und/oder die sie nicht kontrollieren konnte, zu ihren Verbündeten wurden. Und schließlich die letzte Phase des Prozesses, die wir zwischen Ende August 1975, dem Sturz der fünften provisorischen Regierung, und dem konterrevolutionären Putsch vom 25. November 1975 ansiedeln, der das Ende der PCP-Strategie der »Volks-MFA-Allianz« markierte, als sich die Dualität der Kräfte in den Streitkräften aufgrund der Unfähigkeit des MFA, die Stabilität des Staates zu garantieren, verschärfte und das eröffnete, was wir als revolutionäre Krise bezeichnen können.

Die Portugiesische Kommunistische Partei, die eine großartige Führungsrolle im Kampf gegen die Diktatur gespielt hatte, beschloss, sich dem Staatsstreich vom 25. November 1975 nicht zu widersetzen, wobei sie in Gestalt von Álvaro Cunhal öffentlich die Meinung vertrat, dass die militärische und revolutionäre Linke für den PCP zu einer Belastung geworden sei, weil ihre Aktionen die Stabilität des Staates gefährdeten.

Moment der Arbeiterklasse

Die Revolution endete nicht – wie in Chile – in einem faschistischen Putsch, sondern in einem Militärputsch mit wenig Gewalt und wenig Widerstand. Die Volksmacht verfügte über keine politische Koordination; eine bolschewistische Partei alten Stils gab es in Portugal nicht. Die Niederlage der Revolution schmälert nicht ihre Größe und Bedeutung als historischer Prozess, in dem die Arbeiterklasse ihre Stärke zeigte, und als Vorahnung des gelebten Sozialismus als Raum der Freiheit und Gleichheit.

Viele spanische Historiker vertreten heute die Ansicht, dass die Demokratisierung Spaniens, die nach dem Tod Francos im November 1975 begann, und die Ereignisse in Portugal in keinem Zusammenhang standen. Diese These lässt sich bei näherer Betrachtung kaum verteidigen, denn es ist nachweisbar, dass die spanische Bourgeoisie bereits unmittelbar nach Beginn der portugiesischen Revolution begann, das Regime zu öffnen, da sie befürchtete, dass die Revolution im Nachbarland zu einer revolutionären Situation auch in Spanien führen könnte. Die iberischen Übergänge zu liberal-demokratischen Regimen zwischen 1975 und 1978 wurden bis Mitte der 1980er Jahre konsolidiert. Dieser Prozess fand seinen Abschluss im Beitritt beider Länder zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1986.

Raquel Varela ist ­Historikerin an der Neuen Universität Lissabon. Sie schrieb unter anderem »A People’s History of the Portuguese Revolution« (Pluto, ­London 2019), »A People’s History of Europe. From World War I to Today« (Pluto, London 2021) und gemeinsam mit ­Roberto della Santa »Breve História de ­Portugal. A Era Contemporânea: 1807–2020« (Bertrand, Lissabon 2023). Zusammen mit Robson Vilalba veröffentlichte sie zuletzt eine Graphic Novel zur Nelkenrevolution: »Utopia« (Bertrand, ­Lissabon 2024).

https://www.jungewelt.de/beilage/art/472942