Es bestehen tatsächlich statistisch meßbare Unterschiede
zwischen Männern und Frauen.« Mit dieser bahnbrechenden
Erkenntnis sorgte 2008 eine neue Autorin für Furore, Susan
Pinker, in Kanada lebende Psychologin und Therapeutin
verhaltensauffälliger Kinder. Ihr Buch »Das
Geschlechterparadox. Über begabte Mädchen, schwierige
Jungs und den wahren Unterschied zwischen Männern und
Frauen« trat als wissenschaftliches Sachbuch auf. Es leidet
allerdings an einem unter seriösen Naturwissenschaftlern
bekannten Phänomen: Die jeweilige Ausgangslage des Beobachters
oder der Beobachterin bestimmt das Untersuchungsergebnis
entscheidend mit. Pinker verfügte schon über ihr
Ergebnis, bevor sie die »Belege« dafür suchte. Was
»wahr« ist, konnte sie daher nie herausfinden.
»Der Gedanke, daß Männer möglicherweise von
Natur aus zum Wettbewerb neigen, kam mir an jenem Nachmittag, an
dem ich meinen dreijährigen Neffen nach seinem Mittagsschlaf
aus dem Bettchen holen wollte.« Der Junge verwickelte Pinker
nämlich in einen Wettstreit darüber, ob sein Dreirad
schneller sei als ihr Fahrrad. Umgehend setzte sie sich an den
Schreibtisch, um möglichst viel von dem zusammenzutragen, was
ihre biologistischen Grundannahmen bestätigt, daß
Testosteron das Handeln der Männer steuert, daß viele
Frauen im harten Berufsleben frustriert sind usw. Um ihre
dünne Argumentationsbasis zu stärken, prügelte
Pinker– ähnlich wie andere Verfechter solcher Thesen
– auf eine Idee ein, die niemand ernsthaft vertritt,
nämlich, daß Männer und Frauen »gleich«
seien. Wir wissen, daß nicht einmal Frauen und Frauen,
geschweige denn Männer »gleich« sind.
Wie konnte so ein dümmliches, die Frauen auf ihre
überwunden geglaubte Rolle als »weiche«,
kommunikationsstarke Wesen festlegendes Buch über Wochen die
Feuilletons und Kultursendungen beschäftigen? Selbst von der
Bundeszentrale für politische Bildung wurde es
überschwenglich gelobt. Die Hauptkonsumentengruppe solcher
Psychobücher ist weiblichen Geschlechts. Ohne Frauen als
Käuferinnen wäre wohl auch Eva Herman 2006 mit ihrem
Titel »Das Eva-Prinzip: Für eine neue
Weiblichkeit« nicht zur Bestsellerautorin geworden. Im Jahr
darauf veröffentlichte sie ein Buch zur Rettung der Familie,
um 2008 zu erklären, »warum wir die Schöpfung nicht
täuschen können«.
Öffentlich kaum wahrgenommen werden dagegen feministische
Untersuchungen, die sich gegen die Flut der irrationalen
Geschlechterbücher wenden. Ende 2009 erschien Frigga Haugs
Artikel »Feministische Initiative zurückgewinnen«,
in dem sich die Soziologin selbstkritisch mit der Entwicklung der
Frauenbewegung auseinandersetzt. Haug stellt nüchtern fest,
daß das »Rad der Geschichte« zurückgedreht
wird, diskutiert jedoch an dieser Stelle nicht die Bedingungen
für den an vielen Fronten zu beobachtenden Rollback. Diese
Bedingungen aber müssen viel schärfer als bisher
untersucht werden, wenn man überhaupt noch erfolgreich
emanzipatorisch arbeiten will.
Elfenbeinturmfeminismus
Doch abgekoppelt von realgesellschaftlichen Entwicklungen rennen
insbesondere akademisch arbeitende Feministinnen immer noch
längst geöffnete Türen ein und stellen zum 100. Mal
fest, daß »Geschlechterverhältnisse eine
eigenständige Konfiguration sozialer, kultureller und
psychischer Differenzierung« darstellen (Gudrun-Axeli Knapp,
Cornelia Klinger 2008). Auf Deutsch: daß zu den
Lebensbedingungen der Menschen neben Klassen- oder
Schichtzugehörigkeit, Religion und Ethnie eben auch das
Geschlecht gehört. Währenddessen zeigt die Maggi-Werbung
im Jahr 2010 eine glückliche Mami mit einem glücklichen
Töchterchen, wiederauferstanden aus dem Mief der 1950er Jahre,
wie sie beide für Ehemann und Sohn kochen, was
»kräftige Männer« so brauchen.
Müssen Feministinnen alles noch einmal erklären?
Schlimmer noch. Ein neuer ideologischer Kampf gegen die
Selbstbestimmung der Frau ist in Gang. Unter dem Deckmantel der
Naturwissenschaften, mit Hilfe alter und neuer Erkenntnisse aus
Gehirnforschung, Verhaltensbiologie und Genetik, wird ein
Menschenbild zusammengerührt, das Frauen ihren
»angestammten« Platz in der Gesellschaft zuweist,
vergleichbar einem Affen in seiner Horde.
Als Bestsellerautor tut sich dieser Tage Joachim Bauer hervor, ein
Professor für Psychosomatische Medizin, der mit Titeln wie
»Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und
Lebensstile unsere Gene steuern« (2002) oder »Prinzip
Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren« (2006)
die öffentliche Debatte mitbestimmt. Vor allem eines will uns
der Mediziner beibiegen: Unser Bewußtsein wird nicht vom Sein
bestimmt, von gegebenen sozialen oder ökonomischen
Umständen, nein, es wird zu großen Teilen von
biologischen Prozessen gesteuert. Übersetzt heißt das:
Jeder an seinen Platz und Ruhe! Daß dieser Platz von den
Profiteuren der bestehenden Gesellschaftsordnung vorbestimmt ist,
also keinesfalls »naturgegeben«, wird verschwiegen.
Unsterblicher Affe in uns
Was sich nicht durch Gene erklären läßt, darf die
Verhaltensbiologie herleiten. Daß der Mensch nicht einfach
mit dem Tier verglichen werden kann, weil er sich nun mal zum
Menschen entwickelt hat, und zwar aufgrund seiner besonderen
Fähigkeit zu Tätigkeit und Reflexion, diese einfache
Tatsache kann ein Verhaltensbiologe, seine Versuchstiere im Auge,
schon mal vergessen. Und der Vergleich mit dem Affen wird doch wohl
jedem einleuchten. Meinen jedenfalls der Biologe und sogenannte
Philosoph Franz M. Wuketits (»Der Affe in uns. Warum die
Kultur an unserer Natur zu scheitern droht«, 2002) und der
Zoologe und Verhaltensforscher Frans de Waal (»Der Affe in
uns: Warum wir sind, wie wir sind«, 2006, Taschenbuchausgabe
2009).
So lustig die Titel auch klingen, eines ist nicht zu
übersehen: Was ein glühendes NSDAP-Mitglied wie der
Verhaltensbiologe Konrad Lorenz vormachte, der, der mit den
Graugänsen schwamm, wird heutigentags massenhaft wiederholt:
die Reduktion des Menschen auf seine »Natur«. In diesen
Tagen sind allerdings nicht Graugänse angesagt, sondern
Ameisenhaufen. Nehmt euch ein Beispiel an den Ameisen, seht, wie
ausgezeichnet sie ihren Staat organisieren, schreibt uns der
Ameisenforscher und »Soziobiologe« Bert Hölldobler
ins Stammbuch (»Die Ameise als Paradigma der
Gesellschaftswissenschaft«, FAZ vom 27.1.2010). Das Wie kann
er allerdings nicht erklären. Deshalb werden wir auch nicht
erfahren, ob die Monarchie nicht doch das Nonplusultra menschlicher
Verfaßtheit ist.
Die Königsdisziplin der biologistischen Welterklärung ist
zweifelsohne die Gehirnforschung. Ihre Befunde erklären
endlich, wie Frauen »ticken« und welche Synapsen
jubeln, wenn sie sich, typisch weiblich, in andere einfühlen.
Der Neurobiologe Gerald Hüther verschont dabei auch Kinder
nicht mit seinen Weisheiten (»Felix und Feline entdecken das
Gehirn«, 2. Auflage 2009. Davor veröffentlichte er die
»Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn«,
9. Auflage 2009).
Solche »Gehirnforschung« kommt jenen Feministinnen
zupaß, die ihr Selbstbewußtsein aus etwas
»spezifisch Weiblichem« herleiten möchten.
Tatsächliche Unterschiede zwischen männlichen,
weiblichen, schwulen, lesbischen, transsexuellen oder anderen
geschlechtlichen Orientierungen müssen natürlich
anerkannt werden, doch darum geht es den selbsternannten
Welterklärern gar nicht. Wir sollen uns den Gegebenheiten
anpassen und schließlich wehrlos in den Krieg oder in
unterbezahlte Fabrikarbeit gehen. Schließlich spricht hier
die Wissenschaft, und die meint es doch nicht böse.
Dieser Tage weist eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung erneut auf die wachsende Armut hin,
am stärksten betroffen sind Alleinerziehende, von denen die
große Mehrheit Frauen sind (jW vom 18.2.2010). Schön,
wenn sich die Gedemütigten damit trösten können,
daß sie rein biologisch zum Leiden und Mitfühlen
prädestiniert sind. Eine im November 2009 veröffentlichte
Studie belegt die besonders schlechte ökonomische Lage von
Frauen weltweit, mit Hungerlöhnen und fehlender sozialer
Absicherung. Angesichts der realen Existenzangst von immer mehr
Frauen weltweit ist es reiner Zynismus, wenn eine nordamerikanische
Psychiaterin wie Susan Pinker mit Begeisterung eine Umfrage
herbeizitiert, nach der 50 Prozent der befragten Frauen lieber
keiner bezahlten Arbeit nachgingen, wenn sie nur »genug Geld
hätten, um so angenehm zu leben, wie sie es gern
täten«.
In der Psychofalle
Wo sind die Aufbrüche der 1970er Jahre geblieben? Die
Soziologin Eva Illouz zeigt in ihrem Buch »Gefühle in
Zeiten des Kapitalismus«, wie sich nach dem Zweiten
Weltkrieg, beginnend in den USA, psychologische Beratung und
Therapie zunehmend auf »normale« Leute ausrichteten und
die »Arbeit an sich selbst« propagierten.
Geschlechtsspezifisches Rollenverhalten mußte aufgebrochen,
sexuelle Erfüllung erarbeitet, Zuhörenkönnen erlernt
werden. Einerseits waren diese und andere Rationalisierungen der
zwischenmenschlichen Beziehungen unvermeidlich, um das
Selbstbewußtsein von Frauen zu stärken und
patriarchalische Strukturen zu bekämpfen. Doch anstatt dabei
die das Leben handfest bestimmenden wirtschaftlichen
Verhältnisse im Blick zu haben, schauen viele von uns noch
heute vor allem auf ihre Befindlichkeit, machen sich selbst
verantwortlich, wenn es ihnen schlecht geht. Da kommen
Erklärungen aus dem bunten Reich der Biologie zur Entlastung
gerade recht.
Daß in den genannten und unzähligen vergleichbaren
Gesellschaftserklärungen biologische und soziale Begriffe
permanent vermengt werden, unzulässig und fachlich falsch,
durchschauen die meisten nicht. Dies, obwohl der Mißbrauch
der Naturwissenschaften und die Bereitschaft ihrer Vertreter, sich
mißbrauchen zu lassen, gerade in Deutschland so verheerende
Folgen hatte. Stimmen von Fachfrauen, die
Naturwissenschaftlerinnen, die dem neuen Mißbrauch ihrer
Fachrichtungen entgegentreten, sind bisher in der öffentlichen
Debatte kaum zu vernehmen.
Faschisierungstendenzen
Die Philosophin Nicole C. Karafyllis kommt in ihrer Untersuchung
aktueller Veröffentlichungen zur Gehirnforschung zu dem
erschreckenden Ergebnis, daß sich »eine
bedrückende Wiederkehr der Rassenforschung unter
nationalistischen Vorzeichen« abzeichnet, »im Sinne
eines ökonomischen Kampfs ums Überleben der Nation mit
den besten Gehirnen«.
Die unverkennbare Wendung zum Faschismus läßt sich in
vielen Bereichen ablesen, von der Remilitarisierung Deutschlands
über die Verfeinerung der Überwachungsstaatsmechanismen
und die schleichende Aushöhlung des Demonstrations- und
Asylrechts bis hin zur Stigmatisierung von
»Sozialschmarotzern«. »Herdprämie« und
der Angriff auf das Recht auf Schwangerschaftsabbruch im
vergangenen Jahr sollten für Frauen Warnsignal genug sein.
Biologismusprediger stehen, selbst, wenn sie sich das nicht
klarmachen, im Dienste des Klassenkampfes von oben, der
Zementierung bestehender Herrschaftsverhältnisse. Ihre Themen
sind Dominanz, Auslese, Krieg. Für Frauen ist die Rolle der
Mutter und Trösterin vorgesehen. Dagegen helfen nur die
Analyse der Klassenverhältnisse, verbunden mit
Faschismuskritik, und Solidarität mit Menschen jeden
Geschlechts, die der brutalen, angeblich naturgewollten
»Auslese« tagtäglich zum Opfer fallen.
Zitierte Literatur, die nicht empfohlen wird:
Susan Pinker: Das Geschlechter-Paradox. Über begabte
Mädchen, schwierige Jungs und den wahren Unterschied zwischen
Männern und Frauen, DVA, München 2008, 448 S., 17,95 Euro
(Taschenbuchausgabe 2009 im Münchner Pantheon Verlag
erschienen, 12,95 Euro)
Eva Herman: Das Eva-Prinzip: Für eine neue Weiblichkeit.
Goldmann Verlag, München 2007, 256 S., 8,95 Euro
Cornelia Klinger, Gudrun-Axeli Knapp (Hg.): ÜberKreuzungen.
Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Verlag Westfälisches
Dampfboot, Münster 2008, 280 S., 27,90 Euro
Zum Weiterlesen:
»Elemente eines neuen linken Feminismus«. Das Argument
Nr. 281, Heft 3/2009, darin Frigga Haug »Feministische
Initiative zurückgewinnen«, S. 393–408, 12
Euro
Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Suhrkamp
Verlag, Frankfurt/Main 2006, 170 S., 14,80 Euro
Nicole C. Karafyllis: Das emotionale Gehirn als Geschlechtsorgan.
Gedanken zur Liebe im Zeichen der Social Neurosciences. In Das
Argument Nr. 273, Heft 5–6/2007, S. 210–227
Christine Zunke: Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und
Willensfreiheit. Akademie Verlag, Berlin 2008, 222 S., 49,80
Euro
Gero Fischer, Maria Wölflingseder (Hg.): Biologismus –
Rassismus– Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch.
Promedia Verlag, Wien 1995, 264 S., 15,90 Euro
Alexander Wernecke: Biologismus und ideologischer Klassenkampf,
Dietz Verlag, Berlin 1976– erstaunlich aktuell, antiquarisch
erhältlich
Zu den Fotos dieser Beilage:
In der Werbung sind Frauen noch richtige Frauen, also fürs
Kochen, für die Wäsche und fürs Hübschsein
zuständig. Und Männer dürfen noch echte Kerle sein:
Also das Gaspedal genußvoll durchtreten, heimwerkern,
Stärke zeigen, Entscheidungen fällen. Daran hat sich in
den Jahrzehnten, die nach Produktion der Bilder in dieser Beilage
vergangen sind, wenig geändert.
Wie Werbung gestaltet ist, sagt einiges über die Vorstellungen
ihrer Schöpfer, aber auch über den Entwicklungsstand
dieser Gesellschaft, in der nicht wenige Herren in
meinungsbildenden Medien sich diese bequeme und Sicherheit
verleihende Weltordnung auch für das wirkliche Leben
zurückwünschen. Manche Damen unterstützen sie in
entsprechenden ideologischen Grabenkämpfen, wie die folgenden
Beiträge zeigen.