20.11.2010 / Aktion / Seite 16
Die Bombe platzen lassen
Die Medien wissen mehr, als sie selbst und der Innenminister zugeben. Der Krieg kehrt in die Zentren der Industriestaaten zurück
Dietmar Koschmieder
Schon eigenartig: Der Innenminister tritt am Mittwoch vor das
Mikrofon und ruft »Terroralarm« (Tagesspiegel). Laut
Hinweisen werde Ende November, so de Maiziére, ein
»mutmaßliches Anschlagsvorhaben« umgesetzt.
Solche Warnungen gab es schon öfters, eigenartig ist aber,
daß die meisten Zeitungsredaktionen zu diesem Zeitpunkt schon
mehr wissen, als der Minister preisgibt. Der Tagesspiegel meldet am
gleichen Tag vorab, daß der Anschlag angeblich am Montag, den
22.November stattfinden wird. Diese genaue Terminierung wurde auch
der jungen Welt aus »gut informierten Kreisen«
zugespielt. Wie auch die Information, daß vor allem
große Hotels gefährdet seien. Die Hoteliers waren schon
Tage zuvor über die Gefährdungslage informiert worden.
Also viel Arbeit für die Medien. So verbreitete gestern das
ZDF eine Meldung, die mit »ZDF-Terror-Experte: So viele
Hinweise auf Anschläge wie noch nie« überschrieben
war. Weiter heißt es dort: »Der Bundesinnenminister hat
nicht alles gesagt, was er weiß. Es gibt noch eine Reihe von
weiteren Hinweisen.« Aber woher weiß der
ZDF-Terror-Experte Elmar Theveßen das alles? Wer hat es ihm
gesteckt? Und wieso? Daß die Geheimdienste mit den
Geheimdienst- und Terrorexperten der Medien auf das Engste
zusammenarbeiten, ist hinlänglich bekannt. Warum aber sind
bürgerliche Medien so wenig mißtrauisch gegenüber
dieser Art von Arbeitsteilung?
Unglaublich auch, wie unkritisch die Redaktionen mit den
politischen Experten umgehen. Wenn letztere zu erhöhter
Wachsamkeit der Bevölkerung, also zur Denunziation, aufrufen,
reicht das ersteren nicht. Kritisch fragen sie nach: Das sei doch
alles sehr unpräzise, ob nicht deutlicher gesagt werden
könne, wie man so was machen solle, wird beim Berliner Sender
Radio Eins am Donnerstag nachgefragt. Experten wie der Innensenator
Erhart Körting geben unkommentiert Ratschläge. Laut
Berliner Zeitung rief er am Donnerstag die Berliner
ungewöhnlich deutlich dazu auf, ihre Umgebung genau zu
beobachten. »Wenn wir in der Nachbarschaft irgendetwas
wahrnehmen, daß da plötzlich drei etwas seltsam
aussehende Menschen eingezogen sind, die sich nie blicken lassen
oder ähnlich, und die nur Arabisch oder eine Fremdsprache
sprechen, die wir nicht verstehen, dann sollte man« die
Behörden unterrichten, sagte Körting. Andere Experten
dürfen in den Medien lang und breit erklären, warum
Vorratsdatenspeicherung und schrankenlose Abhörerei
völlig unverzichtbar seien. Anders sei eine effektive
Terrorbekämpfung nämlich völlig unmöglich,
behauptete der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion,
Hans-Peter Uhl am Donnerstag. Das Übliche halt, leider aber
auch die übliche Rolle der meisten Journalisten als reine
Stichwortgeber. Kaum jemand kommt es in den Sinn, daß hier
offensichtlich ein weiterer Abbau demokratischer Grundrechte in
großem Stil vorbereitet wird.
Auch weil auf Dauer Terrorwarnungen politisch nicht zu nutzen sind,
wenn nicht doch irgendwo mal eine Bombe hochgeht, ist die aktuelle
Warnung des Innenministers sehr ernstzunehmen. Der jungen
Welt zugespielte Informationen besagen, daß deutsche
Geheimdienste am bevorstehenden Anschlag mitdrehen. Das können
wir nicht verifizieren, Geheimdienste bestätigen so etwas
nicht. Daß die nicht nur beobachten – so absurd ist der
Gedanke allerdings keineswegs. Am vergangenen Samstag haben wir auf
Seite eins dieser Zeitung darüber berichtet, daß aus
Ermittlungsakten über einen kurz zuvor festgenommenen
Terrorverdächtigen hervorgeht, daß dieser
möglicherweise von einem V-Mann zu seinen Videobotschaften
angestiftet wurde. Generalstaatsanwaltschaft und Landeskriminalamt
wollten den Vorwurf nicht kommentieren. Auch die in den Medien als
Sauerlandbomber bezeichneten festgenommenen Terroristen sollen ihre
Zünder für die Sprengsätze von einem Türken
bekommen haben, der mit Geheimdiensten zusammenarbeitete.
Ähnliche Informationen aus dem In- und Ausland häufen
sich. Angst vor Terror war schon immer ein beliebtes Mittel der
Politik, um demokratische Rechte, die als hinderlich empfunden
werden, leichter aus dem Weg räumen zu können.
Aber auch wenn die Bombe nicht im Auftrag der Herrschenden oder von
ihnen gesteuerter nützlicher Idioten gezündet wird, sind
sie für die entstandene Situation verantwortlich. Darauf hat
die junge Welt schon in ihrer Ausgabe vom 12. September
2001, also nur einen Tag nach den furchtbaren Anschlägen auf
das World Trade Center in New York, hingewiesen. Der Chefredakteur
der jungen Welt, Arnold Schölzel, kommentierte:
»Die Nachrichten über die Anschläge in den USA
waren gut eine Stunde alt, da trat in Berlin der Nationale
Sicherheitsrat der Bundesrepublik zusammen. Die
Sicherheitsbehörden (...) seien in höchste Alarmstufe
versetzt worden. Der Bundestag unterbrach seine Sitzung. So sehen
Vorboten nationaler, diesmal NATO-weiter Hysterie aus. Zu erwarten
sind militärische Vernichtungsaktionen gegen mutmaßliche
Urheber plus unbeteiligte Zivilisten. Sie folgen dem Terror, den
man in diesem Fall weniger denn je individuell nennen kann, mit
jener Konsequenz, mit der die Nazis den Reichstagsbrand nutzten.
(…) Daran muß deswegen erinnert werden, weil Ursache
und Wirkung solcher Aktionen nun nach den seit jeher gültigen
Propagandaregeln vertauscht werden: Wir sind die Guten, die sind
die Bösen. Tatsächlich sind Attentate wie die vom
Dienstag, die einer Kriegserklärung gleichkommen, theoretisch
von Vordenkern vor allem der Dritten Welt seit Jahrzehnten
vorhergesagt worden (…). Sie alle haben davon gesprochen,
daß, sollte der Krieg des weißen und reichen Nordens
gegen den farbigen und armen Süden nicht aufhören, er in
die Zentren der Industriestaaten zurückkehren würde.
(...) Kriegsverursacher benötigen
Sündenböcke.«
Gedanken, die schon damals umgehend von Die Welt bis zur
Frankfurter Allgemeinen Zeitung als völlig abwegig
gegeißelt wurden. Immerhin einer der seltenen Momente, in
denen die junge Welt in den überregionalen Medien
zitiert und kommentiert wurde.
https://www.jungewelt.de/artikel/154594.die-bombe-platzen-lassen.html