Gegründet 1947 Mittwoch, 24. April 2024, Nr. 96
Die junge Welt wird von 2767 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 13.07.2019, Seite 11 / Feuilleton
Museumsinsel

Ansichten und Einsichten

Wer in den vergangenen Jahren am Berliner Kupfergraben spazieren ging und sich fragte, welcher graue Klotz samt seltsam wachsenden Säulen ihm den Blick auf die Museumsinsel versperrt, weiß spätestens jetzt aus Funk und Fernsehen: Es ist die James-Simon-Galerie, die am Freitag mit allem dazugehörigen Tamtam eröffnet wurde. Deren Bau nach einem Plan (genauer: dem zweiten) des britischen Architekten David Chipperfield hat etwas länger gedauert (ca. zehn Jahre) und auch etwas mehr gekostet (so 134 Millionen Euro) als zunächst veranschlagt, aber das ist man in Berlin ja gewöhnt. Außerdem kann man den monotonen Kasten mit hübscher Freitreppe, der so praktische und unverzichtbare Funktionselemente wie die Garderobe, die Kassen, Toiletten, Gastronomie, einen Buchladen sowie Vortrags- und Ausstellungssäle konzentriert, nun als »eigentliche Vollendung der Museumsinsel« (FAZ) feiern. Und übers nahe gelegene Humboldt-Forum endlich einmal schweigen.

Das geht besonders gut auch mit Festreden, wie etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung bei hässlichem Regenwetter eine hielt. In der pries sie die Museumsinsel als Ort, an dem man durch »neue Ansichten neue Einsichten« gewinnen könne und warnte vor »Abgrenzung, Ausgrenzung, Abschottung«, die einen Nährboden für »Missverständnisse, Vorurteile, Feindbilder« böten. Welche Ansichten und Einsichten die ziemlich teure Servicestation neben einer ersten Sonderausstellung von Gipsabformungen aus dem Museumsdepot bieten wird, bleibt fürs erste offen, ebenso die Frage, ob man dem bedeutenden Stifter James Simon (1851–1932) mit dem Bau tatsächlich ein würdiges Andenken verschafft. Der jüdische Textilindustrielle und Kunstmäzen schenkte den Museen der Hauptstadt u. a. die weltberühmte Büste der Nofretete.

Doch immerhin: Die Berliner haben nun auch eine »archäologische Promenade«, die Häuser der Museumsinsel eine unterirdische Verbindung, und wenn man am Kupfergraben spazieren geht, weiß man immer, wo man seinen Mantel aufhängen kann. (pm)

Mehr aus: Feuilleton