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Aus: Ausgabe vom 01.06.2016, Seite 11 / Feuilleton

Fledermaus und Weltgeschichte

Von Wiglaf Droste

Der Dichter James Krüss wurde am 31. Mai 1926 auf der Insel Helgoland geboren; gestern hätte er seinen 90. Geburtstag gefeiert, wenn er nicht am 2. August 1997 auf der Insel Gran Canaria gestorben wäre; seine Asche wurde auf seinen Wunsch vor Helgoland im Meer verstreut. So bleibt er der Welt erhalten, im Überall und im Nirgends.

Krüss war ein Mann des Meeres und ein Inselmensch; seinen ersten großen Roman nannte er »Die Glücklichen Inseln hinter dem Winde«; das Buch wurde 1958 zunächst in Ostberlin veröffentlicht, bevor es 1959 auch in der Bundesrepublik erschien. Einige Jahre zuvor hatte Krüss den zwei Jahre jüngeren Dichter Peter Hacks kennengelernt; in Istrien an der jugoslawischen Ad ria dichteten die beiden Mitte der 1950er Jahre gemeinsam, seitdem verband sie eine knapp 40 Jahre andauernde Brieffreundschaft.

Als Peter Hacks im Jahr 1990 von Krüss vernommen hatte, dass dieser sich einer schweren Herzoperation hatte unterziehen müssen, schrieb er ihm am 17. September desselben Jahres: »Liebster James, was machst Du? Ich hätte mehr Grund für einen Herzschaden als Du und habe keinen; freilich lebe ich gesünder, indem ich rauche.« Der 31. Mai ist nicht nur der Geburtstag von James Krüss, sondern, wie um die Zartheit des stets genüsslich schmökenden Peter Hacks zu schmähen, auch ein, als ob es so etwas brauchte, sogenannter Weltnichtrauchertag, an dem die darauf brennholzstolzen Nichtqualmer ihren Nichtraucherfrust­husten abschmaddern und mit ihren Nichtraucherbeinen herumschlackern.

Drei Jahre nach seinem Genesungswunsch schrieb Hacks am 15. September 1993 an Krüss, er »habe gegen die Kälte dieses Sommers wieder die Glücklichen Inseln zu mir genommen, mit äußerstem Vergnügen« und ergänzt: »Poetisch schön gedacht ist, dass die Utopie zu suchen sei im dalmatinischen Archipel. Nicht im fernen Weltmeer – gleich hier zu Haus um die Ecke. Wie heißt es? Es ist gut, vernünftig zu sein, und es ist vernünftig, gut zu sein. Das waren wohlgemute Zeiten, das war auch noch ein Jugoslawien. Das Buch wird immer unbeschadet bleiben. Wer damals recht hatte, lieber Herr, waren wir; es ist bloß die Weltgeschichte, die unrecht hat.«

Krüss antwortete am 5. Oktober 1993: »Die Frage, ob die Weltgeschichte recht hat, ist die Frage, ob das Gras grün, das Wasser nass und das Feuer heiß ist, und ist wohl auch eine Frage der Definition. Die Fledermaus sieht alle Welt kopfüber. Von Jugoslawien krieg ich keine Antwort. Und ich Esel glaubte einmal, dort das Paradies zu finden.«

Es war das Ende eines fruchtbaren, liebevollen Briefwechsels. So geht das mit der Poesie, der Fledermaus und der Weltgeschichte: Es geht dahin.

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