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Aus: Ausgabe vom 19.12.2014, Seite 11 / Feuilleton

Sozialphobiker

Von Wiglaf Droste

 

Wer aufmerksam zuhört, hat die Chance, seinen Wortschatz zu bereichern. Noch reden ja nicht alle im Gleichsprech davon, dass und wie sie sich optimieren wollen, selbstverständlich nachhaltig, aber hastenichgesehen, also von daher, blablabla, Camembert Camembert ...

Es gibt auch Wörter, die man sich gern merkt, beispielsweise Schneckenfittich und Dusselpeter, und dann vernahm ich die mir unbekannte Vokabel Sozialphobiker. Am Nebentisch im Restaurant repetierte ein Herr um die 60 das Wort auffällig häufig; er wirkte besonnen, und so lauschte ich ihm, während ich meine Nudeln verzehrte.

Der Mann sprach ruhig und entschieden; seine Zuhörerschaft bestand aus einem offenbar in Pärchenhaft verbundenen Frau-Mann-Duo – und aus mir, aber das wusste er nicht. Den Sozialphobiker definierte der Sprecher als Prototyp einer Gesellschaft, deren einzelne Mitglieder einander nicht nur gleichgültig im Stich ließen, sondern darüber hinaus in einem aggressiv geführten Verdrängungsprozess gegenüberstünden.

Das klang geläufig; doch die Begründung war es nicht. Voraussetzung für die Entwicklung einer Sozialphobie sei eben nicht die Konkurrenz zu anderen, sondern die Abschottung des eigenen Ich. Ob sie schon Fahrradfahrer mit Kopffhörern in den Ohren im dichten Straßenverkehr gesehen hätten, fragte der Mann das staunend lauschende Paar; genau die seien potentielle Amokläufer. Sie genügten sich in einem Maße selbst, dass sie jeden anderen ausschließlich als Störung wahrnehmen könnten. Es sei wie im Film »Das Leben des Brian«; dumm sei die Menschheit ja schon immer gewesen, aber gemeingefährlich werde sie erst im kollektiven Individualismus. Wenn Milliarden Menschen gleichzeitig Einunddasselbe täten und dabei »Wir sind alle Individuen!« riefen, stehe der Krieg unmittelbar bevor.

Was der Mann sagte, leuchtete mir so ein und heim, dass ich aufstand, zu seinem Tisch ging, mich verbeugte und ihm als Doktor Dusselpeter vorstellte. Er heiße Professor Schneckenfittich, antwortete er aufgeräumt, und dann wurde es noch ein sehr schöner Abend.

 

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