24.04.2024 / Feuilleton / Seite 10

Die Welt ist nicht genug

Verengte Perspektive: Marina Münklers historische Studie über das dramatische 16. Jahrhundert

Peter Köhler

Non sufficit orbis« hatte Spaniens strenggläubiger König Philipp II. sich zum Wahlspruch erkoren: »Die Welt ist nicht genug.« Am Ende war schon die Welt zuviel für ihn: Die Armada ging vor England unter, die zur spanischen Krone gehörenden Niederlande befanden sich im Aufstand, Frankreich, gegen das Philipp erfolglos Krieg geführt hatte, hatte inzwischen selber erste Kolonien in Amerika gegründet. Und was das Himmelreich betraf, so hatte die Reformation das Monopol der katholischen Kirche aufs ewige Leben in einer jenseitigen Welt gebrochen.

Jede Zeit ist eine Zeit des Umbruchs, doch das 16. Jahrhundert ragt heraus, wie die Kulturhistorikerin Marina Münkler in ihrer ausgreifend angelegten Studie deutlich macht. Die Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die Europäer; die Erfindung des Buchdrucks, damit verbunden eine Medienrevolution durch Flugschriften für die breite Masse und eine Bibelübersetzung, die alle lesen konnten; dann die wissenschaftlichen Fortschritte in Naturkunde, Geographie und Astronomie, die Neuerungen in Nautik und Militärtechnik und obendrein eine religiöse Umwälzung, in deren Folge das Individuum sich politisch ermächtigen konnte und in Glaubenssachen sich wirklich halbwegs emanzipierte – es sind grundstürzende Jahre, und das Neue passt mitnichten in ein Korsett von 100 Jahren.

Anders als das kurze 20. Jahrhundert ist das 16. ein sehr langes, das Münkler gut begründet mit den Erkundungs- und Beutefahrten der Portugiesen beginnen und mit Johannes Keplers Dienstnahme beim Feldherrn Albrecht von Wallenstein enden lässt: mehr als 150 Jahre, in denen das jenseitsfixierte Treiben des Mittelalters Schritt für Schritt durch ein Leben und Denken im und für das Hier und Heute abgelöst wurde.

Allerdings war das keine geradlinige Entwicklung, Wohl und Wehe lagen dicht beieinander. Den angehäuften Reichtum in Europa kontrastierte das Leid der versklavten, massakrierten und durch Epidemien dahingerafften Ureinwohner Amerikas, deren Menschennatur, weil sie der Ausbeutung durch die Eroberer Schranken zu setzen drohte, mit allem Ernst bestritten wurde. Anderes Beispiel: Die Vernunftwerdung der Christen konnte in den Hexenwahn kippen. Die vom Teufel scheinbar Besessenen waren sozusagen der »Deep State« der frühen Neuzeit und mussten schuld sein, dass im Kleinen dies und das oder gar das große Ganze den eigenen Maßstäben und Interessen zuwiderlief.

Dass man Glaubensfragen aber erfrischend aufklärerisch behandeln konnte, dafür steht die frühe Reformation. Münkler zitiert eine Spottprozession von 1524, als erzgebirgische Knappen »die feierliche Erhebung« der Gebeine Bennos von Meißen »ins Lächerliche zogen«: Sie trugen in »›allten, faulen fusstüchern‹, kotverschmutzten Decken und Mistgabeln die Knochen eines Tierkadavers in einer Misttrage auf den Marktplatz, wo ein als Bischof drapierter Bergknappe den Kieferknochen einer Kuh mit den Worten erhob: ›O liben andechtigen, das ist der heilige arschbacken des liben sanct benno.‹«

Doch so lustig solche Details aus den Glaubenskämpfen des 16. Jahrhunderts sind, so schicksalhaft die Reformation für die Zeitgenossen Mittel- und Nordeuropas einschließlich Englands war, so wichtig ist es festzuhalten, dass ihre Bedeutung heute drastisch geschrumpft ist und für die romanische Welt schon immer gering war, weshalb dem deutschen Protestantismus zwei von acht Kapiteln zu widmen doch sehr großzügig ist.

Der deutsche Blick auf die Geschichte ist das eine, die ansonsten westeuropazentrierte Perspektive das andere. Osteuropa, China und Japan spielen keine und das persische Safawiden-Reich nur eine Nebenrolle als Nachbar Indiens, das selber bloß als Objekt europäischer Begehrlichkeit in den Blick kommt, ähnlich wie der Kontinent Amerika. Gründlich würdigt Marina Münkler lediglich das Osmanische Reich – eben weil es als einziger weltpolitischer Akteur das christliche Europa, das »Abendland« herausforderte.

Die fälschlich so genannten »Türken« scheiterten schließlich. Eine wesentliche Ursache dürfte in der Ökonomie zu finden sein. Während das eigenartige System des osmanischen Feudalismus erstarrt, entwickelt sich in Europa eine frühkapitalistische Wirtschaft, deren treibende Kräfte und Personen allerdings nicht alle ins Bild kommen, da Münkler ausgerechnet hier das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vergisst und damit global Geschäfte machende Kaufmannsdynastien wie die Fugger und Welser ignoriert. Auch sie zählten zu den schon damals systemnotwendigen in- und ausländischen Geldgebern, die die Entdeckungsfahrten der Seefahrer und die Eroberungszüge der Konquistadoren erst ermöglichten.

Risikokapital ist keine neue Erfindung, das macht Münklers Studie klar. Symbolisch steht es für die Geburt eines Zeitalters, das bis heute währt: It’s the economy, stupid, nicht die Reformation. Die Welt ist nämlich nicht genug: Was im späten 20. Jahrhundert zum Titel eines James-Bond-Films wurde, ist in der Realität das Motto des Kapitalismus. Der Planet Erde reicht ihm nicht.

Marina Münkler: Anbruch der neuen Zeit. Das dramatische 16. Jahrhundert. Rowohlt-Verlag, Berlin 2024, 539 Seiten, 34 Euro

https://www.jungewelt.de/artikel/473918.sachbuch-die-welt-ist-nicht-genug.html