Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Gegründet 1947 Montag, 17. Juni 2024, Nr. 138
Die junge Welt wird von 2788 GenossInnen herausgegeben
Jetzt zwei Wochen gratis testen. Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Aus: Ausgabe vom 16.05.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Fernes Grollen

Gewohnt mehrdeutig: Nuri Bilge Ceylans neuer Film »Auf trockenen Gräsern«
Von Holger Römers
11.jpg
Kokette Komplizin: Ece Bağcı als Sevim

Wer Türkisch kann, ist beim Betrachten von »Auf trockenen Gräsern« gewiss im Vorteil. Denn die Einbuße an Nuancen, die jede Synchronisation oder Untertitlung mit sich bringt, fällt um so mehr ins Gewicht, je dialoglastiger und länger ein Film ist. Im Œuvre von Nuri Bilge Ceylan, das seit »Es war einmal in Anatolien« (2011) durch Überlänge und seit dem Cannes-Gewinner »Winterschlaf« (2014) durch ausschweifende Gespräche geprägt ist, ist der neunte Spielfilm (knapp) der längste und wohl auch der wortreichste.

Wer die Originalsprache nicht beherrscht, hat also reichlich Anlass, sich beispielsweise zu fragen, ob in den türkischen Dialogen etwaige Akzente einen Hinweis geben, in welchem Verhältnis die Figuren zu den sporadisch erwähnten kurdischen und alevitischen Volksgruppen stehen. Oder ob weitere Begriffe womöglich Rückschlüsse erlauben, welche militanten kurdischen oder linken Gruppen jeweils mit dem Wort »Organisation« gemeint sind, das gelegentlich in den Untertiteln auftaucht. Zwar hindert die Unkenntnis der türkischen Sprache niemanden daran, das ferne Grollen, das den Protagonisten am ostanatolischen Handlungsort mitunter vom Schlaf abhält, als Gefechtslärm des Kriegs gegen die PKK zu identifizieren. Aber die Skepsis, wie diese oder jene Aussage objektiv zu verstehen sei, weckt unweigerlich Zweifel, ob man etwas subjektiv missversteht.

Das ist dem Stoff, der Perspektive und dem Ton von »Auf trockenen Gräsern« freilich sehr angemessen. Jedenfalls ist offensichtlich, dass das Drehbuch, das der 65jährige Regisseur gemeinsam mit seiner Ehefrau und regelmäßigen Mitarbeiterin Ebru Ceylan sowie mit dem schon bei seinem letzten Film »Der wilde Birnbaum« (2018) als Koautor firmierenden Akın Aksu verfasst hat, Mehrdeutigkeiten beabsichtigt. Dazu gehört, dass wir nie die genauen Umstände und Motive einer Beschwerde erfahren, die zwei Schülerinnen gegen die Lehrer Samet (Deniz Celiloğlu) und Kenan (Musab Ekici) vorbringen und aus denen sich einer der beiden Erzählfäden entspinnt. Ebenso offen bleibt indes, welche abschließende Entwicklung die Dreiecksbeziehung nehmen mag, die die befreundeten Kollegen mit der an einer anderen Schule unterrichtenden Nuray (Merve Dizdar) anbahnen.

Die bei Ceylan gewohnt dünne Handlung beginnt damit, dass Samet aus dem Urlaub in der unbestimmten »Heimat« an seinen abgelegenen Dienstort zurückkehrt. Sobald das letzte Jahr seiner örtlichen Lehrverpflichtung abgelaufen ist, will er sich nach Istanbul versetzen lassen. Doch vorerst steckt der Kunstlehrer in einer schneebedeckten Einöde fest, in der im Bildhintergrund schnell ein gepanzertes Militärfahrzeug auftaucht, dessen Kommandeur ihn per Megaphon zum Tee einlädt. Dass der Protagonist dieser Einladung folgt, obwohl er gegenüber einem arbeitslosen Bekannten, den er provokant als »Terroristen« anspricht, das Gegenteil angekündigt hat, ergibt die erste von mehreren Lügen Samets, deren Zeugen wir allmählich werden.

Immerhin scheint klar, dass in der koketten Komplizenschaft mit der Schülerin Sevim (Ece Bağcı) keine sexuellen Absichten mitschwingen. Allerdings schmeichelt dem alleinstehenden Mann die Vorstellung, dass der Teenager in ihn verliebt wäre. Entsprechend zwiespältig wirkt, dass Ceylan die Erzählperspektive – mit einer kurzen Ausnahme – an diesen Protagonisten bindet und zunehmend subjektiv werden lässt. Dazu gehört, dass die gewohnt langen statischen Einstellungen allmählich aufgelockert werden und die Kamera von Kürşat Üresin und Cevahir Şahin sich vereinzelt an Samets Fersen heftet. Das gipfelt just nach der längsten Dialogszene, die den Zynismus des selbsternannten Egoisten mit den Idealen der selbsterklärten Sozialistin Nuray kontrastiert, in einer vorübergehenden Auflösung der vierten Wand. So wird schließlich jene Frage zugespitzt, für die eine unterschwellige Skepsis gegenüber den Details der Übersetzung um so empfänglicher macht: Wie konkret nämlich die angedeuteten gesellschaftspolitischen Positionen auf die Wirklichkeit in der Türkei – und anderswo – zu beziehen sind.

»Auf trockenen Gräsern«, Regie: Nuri Bilge Ceylan, Türkei, Frankreich, BRD u. a. 2023, 197 Min., Kinostart: heute

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Ähnliche:

Regio:

Mehr aus: Feuilleton