19.04.2024 / Ausland / Seite 6

Maulkorb für Mélenchon

Frankreich: Universität Lille sagt Veranstaltung zu Palästina mit Linkspolitiker wegen Antisemitismusvorwürfen ab

Jörg Tiedjen

Palästina ist schon seit Wochen Thema im französischen EU-Wahlkampf. Am Mittwoch abend stand es erneut im Zentrum einer Kundgebung der linken Partei La France insoumise (LFI) in der Arbeiterstadt Roubaix, auf der LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon zusammen mit der EU-Kandidatin Rima Hassan auftrat. Wenige Stunden zuvor hatte die Universität Lille eine für den darauffolgenden Donnerstag abend in ihren Räumlichkeiten geplante Veranstaltung abgesagt, bei der Mélenchon und Hassan »zur aktuellen Lage in Palästina« sprechen sollten. Die Absage war auf Druck der Renaissance-Abgeordneten Violette Spillebout und des Präsidenten der Republikaner in der Region Hauts-de-France, Xavier Bertrand, erfolgt. Sie hatten Anfang der Woche vom Präsidenten der Universität verlangt, die beiden Linkspolitiker auszuladen.

Die Debatte über den Nahostkonflikt werde »nicht mit Personen in Richtung Frieden vorankommen, die den gewalttätigsten Antisemitismus vertreten und Israel zerstören wollen«, hatte Spillebout auf X geschrieben. Als Beleg für den angeblichen Antisemitismus der LFI-Vertreter führte Bertrand laut dem Sender Europe 1 das Logo der Solidaritätsgruppe »Palestine Libre« an, das sich auf dem Plakat der geplanten Veranstaltung in Lille abgedruckt findet. Es stellt Palästina in seinen historischen Grenzen dar – was zum Anlass genommen wird, Hassan und Mélenchon vorzuwerfen, sie würden dem nicht eingezeichneten Israel das Existenzrecht absprechen.

Mélenchon war aufgebracht, als er am Mittwoch abend vor das Publikum in Roubaix trat, wie Le Point festhielt. »Ich bedauere den Präsidenten der Universität, denn was er getan hat, ist schändlich«, sagte er vor geschätzt 1.000 Personen im Saal. »Sie wissen, dass sie lügen, wenn sie sagen, dass wir eine antisemitische Konferenz abhalten werden. Denn Antisemitismus ist Rassismus, und wir sind keine Rassisten«, so der LFI-Chef. Le Point zufolge dominierte Palästina die gesamte zweistündige Veranstaltung. »Ihr Wahlzettel ist Ihre persönliche Würde«, wird Mélenchon zitiert. Zumal es in der Arbeiterstadt zahlreiche Nichtwähler gibt, forderte er mit Blick auf den Gazakrieg: »Holen Sie jeden ab, rufen Sie dazu auf, den Stimmzettel für den Frieden abzugeben, fordern Sie ein Ende der Massaker!«

Erst vergangenes Wochenende war in Berlin eine Palästina-Konferenz von den lokalen Behörden abgebrochen worden. Aber auch in Frankreich wird der Nahostkonflikt dazu benutzt, politische Gegner kaltzustellen. Das ist um so bedenklicher, als es sich bei Mélenchon nicht um irgend jemand handelt. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 konnte er jeweils rund 20 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, sein Bündnis NUPES ist stärkste Oppositionskraft im Parlament. Die französisch-palästinensische Juristin Rima Hassan wiederum war im vergangenen August noch von Forbes wegen ihres Engagements für Geflüchtete zu »einer von 40 außergewöhnlichen Frauen« ernannt worden. Zwar wurde ihr gemeinsamer Auftritt mit Mélenchon an der Universität von Lille am Donnerstag gecancelt. Dennoch sollte er zum gleichen Termin an einem anderen Ort in der nordfranzösischen Stadt stattfinden. Allerdings wurde auch die Ausweichveranstaltung am Nachmittag verboten – diesmal von der Präfektur.

https://www.jungewelt.de/artikel/473667.eu-wahlkampf-maulkorb-für-mélenchon.html