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Aus: Ausgabe vom 13.05.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Wirtschaftskrieg

Essenz des Krieges

Der US-Historiker Nicholas Mulder kommt in seiner Geschichte von Wirtschaftssanktionen zu interessanten Schlussfolgerungen
Von Harald Projanski
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Kriegführung mit ökonomischen Mitteln: Banner gegen die Sanktionspolitik Washingtons (Caracas, 9.5.2024)

Westliche Politiker und Mainstreamjournalisten werden nicht müde, Sanktionen als politisch und ökonomisch effektives Mittel gegen als feindlich markierte »autoritäre« Staaten anzupreisen. Der Frage, wie sich die Sanktionspolitik historisch entwickelt hat, ist der Historiker Nicholas Mulder in seinem Buch »The Economic Weapon« mit einem Fokus auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nachgegangen. Schon im Untertitel beschreibt Mulder Sanktionen als »ein Werkzeug des modernen Krieges«. Leser, die Sanktionen bislang für eine »Alternative« zum Krieg und für ein Mittel hielten, Kriege zu verhindern, konfrontiert er in der Folge mit Fakten, die diese Vorstellung widerlegen.

Kritisch beurteilt er die Effektivität von wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen. Letztlich, so Mulders Fazit, sei Sanktionspolitik nicht in der Lage gewesen, »Regimewechsel« zu bewirken. In den meisten Fällen habe der Boykott nicht funktioniert. Sanktionen hätten insgesamt nur eine »begrenzte Wirkung« gehabt.

Der Autor beginnt seine Geschichte der Sanktionspolitik mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Er stellt heraus, dass wirtschaftlicher Boykott und Blockade integraler Bestandteil der Kriegführung der Entente gegen die Mittelmächte waren. Großbritannien und Frankreich schufen Blockadeministerien, deren Maßnahmen mit der allgemeinen Kriegführung eng verbunden waren. Ziel war, den Gegner zu ruinieren und seine Bevölkerung auszuhungern. Die Voraussetzungen für einen weitgehenden Handelsboykott bot die Kontrolle der Weltmeere durch Kriegsschiffe vor allem Großbritanniens und der USA. Mulder sieht in der Sanktionspolitik ein Resultat des angelsächsischen »Navalismus«: Wer die Meere beherrschte, der kontrollierte in Kriegszeiten die Warenströme der Welt.

Mulder zitiert den US-Präsidenten Woodrow Wilson, der 1919 sagte, Sanktionen seien in ihren Auswirkungen »gewaltiger als Krieg«. Denn sie führten die betroffenen Länder in eine »absolute Isolation«. Sanktionspolitik sei ein Druckmittel, dem sich »keine moderne Nation widersetzen« könne. Die nach dem Waffenstillstand zunächst noch fortgesetzte Wirtschaftsblockade während des Ersten Weltkrieges kostete in Mitteleuropa durch Hunger und Krankheiten etwa 300.000 bis 400.000 Menschen das Leben.

Blockade und Sanktionen wurden 1919 auf Sowjetrussland ausgedehnt. Selbst gegen die kurzlebige Räterepublik und Ungarn wurde 1919 eine Blockade verhängt. Mulder analysiert, Sanktionen hätten damals eine »destabilisierende Rolle« gespielt und eine »Eskalationsspirale« ausgelöst. Sie zielten auf den »materiellen Ausschluss aus der Weltwirtschaft« und seien »offensiv ihrer Natur nach«. Sie seien »die Essenz eines totalen Krieges.« Da die Sanktionen gegen Deutschland »integraler Bestandteil des Versailler Vertrages« waren, blieben sie auch nach 1919 ein Mittel des imperialistischen Konkurrenzkampfes.

In den angelsächsischen Ländern, so Mulder, formierte sich eine Lobby, die ständig daran arbeitete, Sanktionen konzeptionell zu verfeinern und effektiver zu machen. Dazu gehörten Intellektuelle, Journalisten, Ökonomen und Rechtsanwälte. Sanktionsbefürworter bemühten sich vor allem um eine Politisierung bisher nicht politisierter Wirtschaftsbeziehungen. Letztlich sei es ihnen um die staatliche Kontrolle privater wirtschaftlicher Unternehmen gegangen. Man könnte auch von einem Widerspruch zwischen imperialistischer Gesamtstrategie und Einzelkapitalen sprechen.

Thematisiert werden auch die öffentlichen Kontroversen in Großbritannien und den USA um die Sanktionen. Der spätere Premierminister Winston Churchill, 1919 Kriegsminister, monierte damals in einer Parlamentsdebatte, die Sanktionen gegen Deutschland und Russland träfen »vor allem Frauen und Kinder, Alte, Schwache und Arme.« Mit solchen Maßnahmen könne man »jeden in den Bolschewismus hungern«. Das Zitat zeigt, dass es die Angst vor der Erschütterung der bürgerlichen Klassenherrschaft war, die Churchill zum Skeptiker der Sanktionspolitik werden ließ.

Die Geschichte der Sanktionspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg streift Mulder nur. Dass er die Sanktions- und Boykottpolitik gegen die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten nach 1945 nicht in den Blick nimmt, ist ein erhebliches Defizit des Buches, dessen Verfasser sich den dezenten Hinweis erlaubt, dass sich das Entscheidungszentrum verlagerte: Mit der Gründung der Vereinten Nationen war vorgesehen, dass deren Sicherheitsrat einvernehmlich über Sanktionen gegen Staaten befinden sollte. Doch in der Praxis habe mehr und mehr der Nationale Sicherheitsrat der USA entschieden. Zur weiteren Perspektive von Sanktionen der USA und ihrer Verbündeten merkt Mulder an, dass diese nur so lange möglich seien, wie der US-Dollar als Reservewährung die Grundlage der Weltwirtschaft bleibe.

Nicholas Mulder: The Economic Weapon. The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War. Yale University Press, New Haven 2022, 448 Seiten, 24 US-Dollar

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