30.04.2024 / Ansichten / Seite 8

NATO? Erst mal nicht

Sicherheitsabkommen USA-Ukraine

Reinhard Lauterbach

Manchmal kann einem der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij geradezu leidtun. Jeden Tag steht er vor der undankbaren Aufgabe, der Bevölkerung per Video Zuversicht einzuflößen, dass alles gut werde, auch wenn es im Moment gerade einmal »schwierig« sei. So erklärte er am Sonntag abend, die Ukraine habe alles getan, um die Beitrittsverhandlungen mit Brüssel zu beginnen – jetzt müsse die EU ihren Verpflichtungen nachkommen und diese Verhandlungen mit Kiew ihrerseits aufnehmen. Man merkt: da spricht ein Bittsteller.

Ähnlich die Aussagen Selenskijs über die angebliche Vorbereitung eines Sicherheitsabkommens mit den USA: »Wir arbeiten daran, konkrete Niveaus der Unterstützung für dieses und die nächsten zehn Jahre festzuschreiben.« Denn das ist weder vom Standpunkt der USA noch von dem der europäischen Länder – darunter Deutschland –, mit denen die Ukraine solche Abkommen in den vergangenen Monaten schon abgeschlossen hat, selbstverständlich. Deren gemeinsamer Nenner: viele warme Worte, aber sehr wenig einklagbare Verpflichtungen. So fuhr Selenskij fort in seinem Wunschdenken: »Das Abkommen (mit den USA) soll wirklich vorbildlich werden und der Stärke der amerikanischen Führung entsprechen.« Hat ihm vielleicht jemand den Foreign Policy-Artikel aus der Schreibstube der Rand Corporation vom 22. April vorgelegt, in dem die Autoren europäische Staaten aufforderten, sich auf den möglichen Ausfall der USA an der ukrainischen Front vorzubereiten?

Die Wahrheit ist: Die bilateralen Sicherheitsabkommen bedeuten für die Ukraine, dass sie sich einen NATO-Beitritt für eben jene zehn Jahre abschminken kann, auf die die angestrebten Verträge abgeschlossen werden sollen oder wurden. Mindestens. Und keine der in diesen bilateralen Vereinbarungen enthaltenen Verpflichtungen geht im übrigen so weit, wie es der Artikel 5 des NATO-Vertrags täte – der im übrigen auch nur festhält, dass jedes Mitglied für sich entscheidet, wie weit es mit der Unterstützung des angegriffenen Partners geht. Auf dem letzten Gipfel hat Generalsekretär Jens Stoltenberg offen gesagt, dass ein NATO-Beitritt so lange ausgeschlossen sei, wie der Krieg in der Ukraine andauere. Den ukraini­schen Nationalismus ausnutzen – aber immer. Aber für seine Folgen selbst den Kopf hinhalten, das will das nordatlantische Bündnis dann doch eher nicht.

Deshalb haben auch die USA Selenskijs seit Monaten vorgetragene Wünsche nach gemeinsamer Waffenproduktion bisher ignoriert. Denn Waffenlieferungen bedeuten auch Kontrolle, und Joint Ventures zur Herstellung etwa von »Patriot«-Raketen würden Kiew genau umgekehrt Kontrolle über etwas geben, was die USA – und insofern die restlichen Waffenlieferanten auch – gerne selbst in der Hand behalten wollen. Da ist Olaf Scholz in guter Gesellschaft, wenn er die »Taurus«-Raketen lieber nicht liefert.

https://www.jungewelt.de/artikel/474450.nato-erst-mal-nicht.html